Urs Weiss, Präsident von Kleintiere Zürich, freute sich sehr, als er Ende September in Effretikon ZH Michael Quetting begrüssen durfte. Dieser hatte im Rahmen eines Forschungsprojekts des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Deutschland das Flugverhalten von Graugänsen untersucht (siehe «Tierwelt» 36 / 2017). Bekannt wurde Quetting in der Schweiz durch seinen Auftritt bei der SRF-Talksendung «Aeschbacher». Und nun hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des kantonalen Kleintierzüchtertages die Gelegenheit, den Deutschen live zu erleben und ihn über sein interessantes und spannendes Leben als Gänsevater sprechen zu hören. 

Quetting erzählte mit vielen Bildern und Videos, wie alles begonnen hatte und – mit etwas Wehmut – wie es war, als er Abschied nehmen musste von seinen sieben Gänsekindern. Von Graugänsen habe er keine Ahnung gehabt, sagte Quetting. Er sei zu ihnen gekommen wie die Jungfrau Maria zum Kinde. Dass gerade diese Vogelart für die geplante Studie infrage kam, lag daran, dass Graugänse einfach auf einen Menschen zu prägen sind. Sie denken dann, dass dieser ihre Mutter oder ihr Vater ist und «latschen» hinter ihm her. Und da Quetting Hobbypilot ist, war im Institut schnell klar, wer diesen Versuch mit den Graugänsen machen sollte.

Michael Quettings Video «Plötzlich Gänsevater – Sieben Graugänse und die Entdeckung einer faszinierenden Welt»:

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Mit Gloria im Bett
Eigentlich hätte Quetting Eier von frei lebenden Graugänsen haben wollen, er fand aber keine. Schliesslich besorgte er von einem Züchter in Norddeutschland elf Bruteier. Die nächste Schwierigkeit war das Brüten. Quetting musste selber herausfinden, was alles zu tun ist, damit am Ende überhaupt Gänseküken, sogenannte Gössel, schlüpfen: Eier kehren, feucht halten und so weiter – «der ganze Prozess war krass», sagte er. Er sei mit den Eiern quasi schwanger gegangen, stundenlang vor ihnen herumgelaufen, habe mit den ungeborenen Küken gesprochen, um sie an seine Stimme zu gewöhnen, und habe ihnen Propellergeräusche vorgespielt, damit sie später keine Angst vor dem Ultraleichtflugzeug haben, das sie auf ihren Flügen begleiten würde. 

In der Folge zog Quetting von zu Hause aus und in einen Wohnwagen am Waldrand um. Dort sollten die sieben Gössel einst neben ihm in einem Wäschekorb schlafen. Das erste geschlüpfte Küken wurde Gloria getauft. «Meine Tochter hatte zehn Frauen- und zehn Männernamen ausgesucht und mir die Liste zur Auswahl gegeben», erinnerte sich der ehemalige Gänsevater. Nun, Gloria wollte nicht im Wäschekorb bleiben, sondern bei Papa schlafen. Also habe er ein Handtuch für das Gänschen neben sich gelegt. Doch anstatt sich daraufzulegen, sei Gloria sofort unter die Bettdecke gekrochen, um dort friedlich einzuschlafen. Quetting hingegen blieb die ganze Nacht wach. Er wollte die Kleine ja nicht noch im Schlaf erdrücken. 

Steif wie ein Brett sei er am Morgen aufgestanden und mit Gloria zum Fressen auf die Weide hinausgegangen. Danach wollte sie sich wieder ausruhen, diesmal unter seinem Pulli. Mit einem Gänschen sei das ja noch gegangen. Als er dann aber mit insgesamt sieben Gänsekindern unter dem Pulli im Supermarkt aufkreuzte ... Glücklicherweise hätten sich die Leute gefreut, wenn er ihnen die Gössel gezeigt habe. Davon sind ihm viele lustige Erlebnisse in Erinnerung geblieben. Schnell habe er auch feststellen müssen, dass alle sieben genau gleich aussahen. Um sie nicht zu verwechseln, wurde allen ein Farbring verpasst und das Problem war gelöst.

Sieben «Torpedos» im Wasser
Nun hiess es schwimmen gehen. Was aber, wenn eine «echte» Graugans vorbeikommt? Würden die Gänsekinder dann merken, dass er eigentlich ein Betrüger ist? Die Kleinen schwammen umher wie Torpedos im Wasser und liessen sich nicht ablenken. Auch dann nicht, als tatsächlich eine Graugans mit sechs Jungen angeschwommen kam. «Meine sieben blieben bei mir. Da war ich sehr gerührt als Papa!», erzählte Quetting. 

Dass Gänse ziemlich viel Kot hinterlassen, habe er auch nicht gewusst. Sie tun das alle acht bis zwölf Minuten und produzieren in einem Tag so viel wie ihr eigenes Körpergewicht. «Da sieht man beschissen aus!», grinste der Referent. Manchmal habe er befürchtet, ein Psychiater würde ihn demnächst abholen kommen. Drei Monate lang 24 Stunden am Tag mit den kleinen Gänschen ein Teil der Natur zu sein, das war ein Erlebnis, das sein Leben verändert habe.

Gänse zu prägen, war das eine, mit ihnen in die Luft zu gehen aber etwas ganz anderes. Zuerst musste der Transport zum Flugplatz organisiert werden. War die letzte Gans endlich im Auto, waren alle anderen bereits wieder draus­sen – ein Hundetransportkäfig brachte die Lösung. Auf dem Flugplatz setzte sich Gänsepapa Quetting schliesslich in das Ultraleichtflugzeug und rollte damit auf der grünen Start- und Landepiste herum. Die Gänse liefen ihm hinterher, das Propellergeräusch kannten sie ja bereits. 

Dann kam der grosse Moment: Nach einigen Versuchen hoben die Gänse ab und flogen mit. Dabei konnte Michael Quetting feststellen, dass das soziale Verhalten der Gänse am Boden auch in der Luft funktioniert. Sie wechselten ständig ab an der Spitze, wie jeweils die Profi-Radfahrer bei der Tour de France. Der erste Flug sei einer der ergreifendsten Momente für ihn gewesen, erzählte Quetting. 

Gänse verabschiedeten sich
Über 80 Flüge haben er und die Gänse gemeinsam gemacht. Aber auch andere Versuche wurden durchgeführt, zum Beispiel ein Flug mit einer Gans frei sitzend auf seinem Schoss. Auf 1500 Metern habe er diese dann buchstäblich aus dem Flugzeug geworfen, worauf sie ohne Probleme weiter mit ihm mitgeflogen sei.

Dann kam die Zeit, loszulassen. Quettings «Kinder» waren erwachsen geworden. Sie verabschiedeten sich vom Gänsevater – bis auf zwei: Die wurden in einem Freizeitpark ausgewildert. Dieser Abschied und die Rückkehr in die normale Welt seien ihm schwergefallen. Es sei eine krasse Zeit gewesen und er habe sich erst nach zwei Monaten wieder an sein altes Leben gewöhnt. 

«Die Gänse haben sicher einiges von mir gelernt, aber ich noch viel mehr von ihnen», schloss Quetting sein Referat. «Ich wurde gelassener, draussen in der Natur, und habe gelernt, jetzt, im Moment zu sein und zu leben!»