Es ist Brunftzeit im Schweizerischen Nationalpark. Davon zeugt ein lautstarkes Röhren, das in der Ferne zu vernehmen ist. «Hört ihr es?», fragt Fadri Bott, während er den Feldstecher in die Hand nimmt und einen steilen Berghang am Fusse des Piz dal Fuorn absucht. Keine zehn Sekunden später richtet er das Teleskop aus, das neben ihm auf einem Stativ steht. Im Sucher erscheint ein Rothirsch mit prächtigem Geweih. Neben ihm zupft eine Hirschkuh Kräuter aus dem Boden. Dann tauchen zwei weitere Kühe auf. Die Tiere scheinen ungestört. Ruhig. Präsentieren sich den Beobachtern minutenlang im noch diffusen Morgenlicht. Erst als die Sonne über die Bergkuppen schaut, ziehen sie sich langsam in die Höhe zurück.

Es ist Anfang Oktober, morgens um halb acht. Beim Hotel Parc Naziunal Il Fuorn, knapp 1800 Meter über Meer, verwandelt die kalte Luft jeden Atemstoss in tanzende Nebelschwaden. Auf der Ofenpassstrasse, die von Zernez ins Münstertal hinüber und weiter nach Italien führt, herrscht schon anständig Verkehr: Grenzgänger, Einheimische, Touristen. «Bis 1925 galt im ganzen Kanton Graubünden ein Autoverbot. Unsere Vorfahren würden sich im Grab umdrehen, wenn sie das sehen könnten», sagt Bott. Der 48-jährige Rätoromane arbeitet schon sein halbes Leben für den Schweizerischen Nationalpark. Seit zwei Jahren prangt auf seiner Arbeitsjacke das Wort «schefguardian», Chefparkwächter.

Zu Besuch im Nationalpark
  • Wanderwege nicht verlassen
  • Keinerlei Abfälle liegen lassen
  • Naturgegenstände (Tiere, Pflanzen, Hölzer, Steine) nicht mitnehmen
  • Kein Mitführen von Hunden
  • Kein Wintersport, keine Velos, keine Fluggeräte
  • Kein Baden in Seen und Bächen
  • Kein Feuer machen (Waldbrand)
  • Kein Zelten, Campen, Übernachten
    in Fahrzeugen

www.nationalpark.ch

Bott kennt das 170 Quadratkilometer gros­se Schutzgebiet wie seine Westentasche. Und er hat allerlei Geschichten auf Lager. So sei etwa die kahle Bergflanke, in der sich die Hirsche aufhalten, ein ehemaliges Waldbrandgebiet und die dürren Bäume «keine Telefonmasten-Zucht», wie man vermuten könnte. Die Kurzversion lautet: 1951 kam beim Il Fuorn eine Lawine herunter. Als der Schnee verschwunden war, räumten die damaligen Besitzer das Totholz von der Weide, schichteten es zu Haufen auf und zündeten sie an. Der Rest ist Geschichte. «Es klingt etwas kurios, aber das Il Fuorn samt Grundstück gehört Privaten und ist eine Enklave im Nationalpark. Früher wurde hier halt noch Landwirtschaft betrieben», erklärt Bott.

Eine Gams im Kofferraum
Zurück zur Fauna. Der männliche Rothirsch (Stier) trägt einen GPS-Sender um den Hals. Damit wird unter anderem untersucht, wie sich die Tiere im Gebiet bewegen. «Vier von unseren acht Parkwächtern sind speziell dafür ausgebildet, Tiere einzufangen, zu narkotisieren und zu markieren», sagt Bott. Die Sender fallen übrigens nach ein bis zwei Jahren ab. Sie danach zu finden, sei eine Wissenschaft für sich. Trotz Ortungssignal. Viel einfacher scheint da Botts Ortung eines Gämsbocks, der sich ebenfalls im Hang aufhält. «Gämsen sind mein Spezialgebiet. Von den 150 Tieren, die seit 1995 im Ofenpassgebiet markiert wurden, kenne ich die Lebensgeschichte jedes einzelnen.»

Eine Gams ist ihm aber besonders in Erinnerung geblieben. Sie wurde im Kofferraum von zwei Südtirolern gefunden. Eher per Zufall. Die beiden hatten eines Nachts einen markierten Bock angefahren und tödlich verletzt. Statt es sofort zu melden, luden sie ihn ins Auto. Zur gleichen Zeit fand ein Einbruch in einer Bijouterie in Davos statt. Die Polizei führte daraufhin unten in Landquart Stras­senkontrollen durch. «Wäre das Tier dort nicht aufgetaucht, hätten wir wohl nie erfahren, was mit ihm geschehen ist», sagt Bott. Auf jeden Fall mussten die beiden Missetäter eine saftige Busse bezahlen.

Bussen stellen auch die Parkwächter aus. Keine angenehme Sache, aber bei jährlich rund 120 000 Besuchern kaum zu vermeiden. Zu den Top-3-Übertretungen gehört das Biken. Auf den Wanderwegen des Nationalparks gilt ein absolutes Veloverbot. Ebenso wenig dürfen Hunde mitgeführt werden, auch wenn man sie an der Leine hat. «Wir hatten mal einen Italiener mit einem schönen Schäferhund. Statt gleich die Busse zu bezahlen, wollte er uns seine Frau als Pfand zurücklassen, um Geld zu holen», erzählt Bott. Auf den Deal sei er nicht eingestiegen. «Wer garantiert mir denn, dass der Mann seine Frau nicht einfach zurücklässt?»

Ein anderes Mal, um die Top 3 abzuschlies­sen, habe ein Kollege angerufen und ein Pärchen gemeldet, das im Nationalpark ein Zelt aufgestellt und – noch viel schlimmer – ein Lagerfeuer gemacht habe. Was aufgrund der extremen Trockenheit fatal hätte enden können. «Der Typ hat übrigens ausgesehen wie eine Mischung aus Robinson Crusoe, Jesus und dem Samichlaus», erinnert sich Bott. Für ihn und seine Mitarbeiter seien solche Einsätze mehr als ärgerlich. Wer den Parkwächtern und sich selbst das Leben also nicht unnötig schwer machen will, hält sich an die Vorschriften (siehe Box). Oder wie der Chefparkwächter es ausdrücken würde: «Einfach nur ‹losa, luega, laufa› – und geniessen.»

«Losa und luega» tun auch die Jäger. Bevor sie aber «laufa», schiessen sie. Und das zum Teil hart an der Grenze zum Nationalpark. Etwa im Gebiet Fop da Buffalora («fop» bedeutet Mulde), auf 2200 bis 2300 Meter Höhe. «Während der Jagdzeit sind wir präsent. Wird hier oben zum Beispiel ein Hirsch angeschossen, kann es sein, dass er ins Schutzgebiet flüchtet», sagt Bott. In einem solchen Fall würden die Parkwächter das erlegte Tier mit einem der beiden Diensthunde suchen gehen und schliesslich dem Jäger übergeben.

Klimawandel fordert seinen Tribut
Das Buffalora-Gebiet ist nicht nur für Jäger interessant, sondern auch für Naturbeobachter, die sich gerade auf dem Wanderweg in oder aus dem Nationalpark befinden. Und die nicht der typischen alpinen Blumen wie Edelweiss und Enzian wegen gekommen sind, die hier im Sommer blühen. Denn gerade segeln zwei Bartgeier vorbei. Sie sind streng geschützt. «Von den fünf Brutpaaren im Park haben diesen Frühling aber nur drei gebrütet», sagt Bott. Bei den sechs Steinadler-Paaren habe es sogar überhaupt keinen Nachwuchs gegeben. Das sei ungewöhnlich angesichts des strengen Winters 2017 / 2018, denn es habe viel Fallwild gegeben. «Wenn bei uns die Schneeschmelze beginnt, ist das, wie wenn jemand den Kühlschrank aufmacht. Genug Futter für die Jungen.» Aber etwas habe nicht gepasst. Vermutlich seien andere Steinadler angelockt worden und hätten so für eine erhöhte Nahrungs- und Revierkonkurrenz gesorgt.

Wieder zurück im Nationalpark kontrolliert Bott eine Fotofalle, die an einem Baum befestigt ist. Letztes Jahr erfasste dieses Gerät zweimal einen Bären und einmal eine Wölfin. Der Bär, der gemäss den Aufzeichnungen mal «innerhalb von 18 Minuten einen halben Hirsch gefressen hat», ist mittlerweile wieder weg. Die Wölfin, die bereits Ende 2016 in den Nationalpark kam, ist dagegen noch da. Um diese und alle anderen Tiere, vor allem den Fuchs, im Schutzgebiet besser erforschen zu können, hat man dieses Jahr 160 Fotofallen aufgestellt (siehe Seite 17). Die Parkwächter helfen mit, sie im Frühling zu montieren und im Herbst wieder einzusammeln. Darüber hinaus bauen sie Spurentunnel, stellen Fallen auf und helfen, wie bereits erwähnt, beim Markieren und Besendern von Tieren. 

Doch es gibt auch andere wichtige Aufgaben. So drängen sich derzeit grössere Unterhaltsarbeiten oder gar eine neue Wanderwegführung im Val da Stabelchod auf, wo sich am 23. August 2018 ein kurzes, dafür ungemein heftiges Unwetter ereignete. Eine mehrere Meter hohe Lawine aus Schlamm und Geröll zwängte sich den Gebirgsbach hinunter, spülte einen Teil der Wanderwege weg und riss drei Holzbrücken mit sich. Eine davon liegt seither auf einem riesigen Schuttkegel in der Ova dal Fuorn, dem Fluss entlang der Ofenpassstrasse. «Die Geröllmassen aus dem Val da Stabelchod haben das Flussbett hier um drei Meter angehoben», sagt Bott und zeigt auf den kleinen See, der sich durch das aufgestaute Wasser gebildet hat. «Trotzdem reden wir nicht von ‹Schäden›. Im Nationalpark gibt es keine ‹Schäden›, nur Ereignisse.»

Eine mögliche Erklärung für das Unwetter sieht Bott im Klimawandel. Dieser sei auch sonst allgegenwärtig. Ein Indikator dafür seien die Lärchen. «Wir haben festgestellt, dass sie sich im Herbst immer später verfärben. Früher fingen sie Anfang September damit an, jetzt erst gegen Mitte Oktober», sagt der Chefparkwächter. Zudem würden die Nadelbäume nicht mehr im Juni, sondern schon im Mai austreiben. 

Liebe kann tödlich sein
Ein weiteres Beispiel ist die Fieder-Zwenke. Die Verbreitung dieser Süssgräser-Art untersuchen Forscher auf «Il Prà», einer 1918 eingerichteten Dauerbeobachtungswiese am Ausgang des Val da Stabelchod. «Diese Zwenke kommt eigentlich nur bis auf Höhen von 1600 Meter vor. Im Nationalpark hat sie es auf 1900 Meter geschafft», sagt Bott. Wobei er einräumt, dass die Besiedlung nicht nur mit den steigenden Temperaturen zu tun hat. Vor der Parkgründung haben hier gesömmerte Kühe für die Verbreitung der Samen gesorgt. Die Zwenke kann lokal andere Grasarten konkurrieren oder gar verdrängen.

Heute nutzen Rothirsche die Grünfläche. Hier fressen sie und hier kämpfen sie. Bis aufs Blut. Manchmal sogar bis zum Tod. Das Opfer eines solchen Brunftkampfs liegt seit zweieinhalb Wochen in einem Waldstück etwas oberhalb von «Il Prà». Verendet an den schweren Verletzungen, die ihm ein Rivale zugefügt hat. Der Kadaver stinkt mittlerweile zum Himmel. Ein Teil davon wurde bereits gefressen. Ein anderer abgeschnitten. «In solchen Fällen entfernen wir immer den Kopf. Wegen dem Geweih», sagt Bott. Dieses werde vermessen, untersucht und für die Nachwelt aufbewahrt. Um alles andere kümmert sich die Natur.