Herbert R. musste sich einer Gallenblasenoperation unterziehen. Das Organ wurde ihm vollständig entfernt. Im Spital bezog er ein Zimmer mit Blick auf einen blühenden Apfelbaum. Einer seiner Leidensgenossen mit der gleichen Krankheitsgeschichte lag zur gleichen Zeit auf der gleichen Station. Von seinem Bett aus sah er die graue Wand des Parkhauses.

Herbert R. und sein Kollege stehen symbolisch für die Teilnehmer einer gross angelegten Studie. Wissenschaftler verglichen dabei den Heilungsprozess zwischen Patienten mit Ausblick auf einen Baum und solchen, die durch ihr Fenster lediglich auf eine Hauswand blickten. Die Teilnehmer aus beiden Gruppen wiesen betreffend Krankheitsgeschichte, Alter und Geschlecht vergleichbare Profile auf.

Die Studie dauerte neun Jahre – und überraschte schlussendlich mit ihren Resultaten die Fachwelt. Die wissenschaftliche Arbeit zeigte auf, dass sich Patienten mit Blick auf einen Baum schneller von der Operation erholten und gesund wurden als die  Patienten mit Blick auf eine Hausmauer. Zusätzlich brauchten sie weniger Schmerzmittel.

Übertragen Bäume Immunsubstanzen?
Die Studie, im Jahr 1984 in der renommierten Zeitschrift «Science» veröffentlicht, hatte Sogwirkung: Wissenschaftler suchten weitere Hinweise für die heilende Wirkung der Natur. In Experimenten liessen sie  chronische Schmerzpatienten in einem Garten entspannen, Naturfotos betrachten oder im Wald spazieren gehen – jedes Mal mit dem gleichen Effekt: Die Schmerzen nahmen ab, die Kranken fühlten sich besser.

Seither wurden unzählige Bücher zu dem Thema geschrieben. Eines davon ist «Der Biophilia-Effekt – Heilung aus dem Wald» aus der Feder des Österreichers Clemens G. Arvay. Das Buch ist im deutschsprachigen Raum ein Bestseller. Das kürzlich erschienene Nachfolgewerk «Heilungscode der Natur» konzentriert sich ebenfalls auf die heilende Kraft der Natur. Arvays Erklärungen klingen ebenso einfach wie fantastisch. «Pflanzen tauschen chemische Botschaften untereinander aus. Sie informieren beispielsweise andere Bäume im Wald über Schädlinge. Dann aktivieren alle kollektiv ihre Immunsysteme und können so die Angreifer mit vereinten Kräften abwehren», sagt Biologe Arvay. Die Substanzen, die die Bäume laut ihm benutzen, gehören in die Gruppe der Terpene. «Studien haben bewiesen, dass auch unser Immunsystem beim Einatmen der Terpene wichtige Abwehrkräfte aktiviert. Unser evolutionär geschultes Immunsystem ‹versteht› also in gewisser Hinsicht die Sprache der Bäume und reagiert.»  

Arvay hat für jede seiner Erklärungen und Behauptungen eine Studie bereit. Da sind nicht nur die bekannten Gallenblasenpatienten aus den 1980er-Jahren, sondern auch erstaunliche Erkenntnisse aus Japan. Yoshinori Ohtsuka, ein Professsor für Diabetologie an der Universität von Hokkaido, unternahm mit 116 seiner Patienten einen Ausflug in ein Waldgebiet. Vor der Abfahrt nahm er allen Beteiligten Blutproben ab, um den Blutzuckerspiegel zu messen. Egal, ob sich die Teilnehmer auf einen Spaziergang begaben oder nur ruhig im Wald auf einem Baumstrunk sassen: Die Blutzuckerwerte verbesserten sich.

«Gesundheitsbad» im Wald
Doch mit jeder weiteren Studie, die Arvay zitiert, fragt sich der Leser: Wenn die Natur bewiesenermassen so heilend ist, warum bindet man ihre Kräfte nicht in die Schulmedizin ein? Es gäbe doch aus medizinischer und finanzieller Sicht kaum eine effektivere Lösung, als zum Beispiel alle Krankenhauszimmer mit einer Waldtapete zu versehen. Mehr Natur, weniger Schmerzen, quasi.

Viele Menschen seien für solche Botschaften noch zu technikgläubig, sagt Arvay. Vorherrschend sei immer noch ein Weltbild, das  die «Allmacht» der Technologie in den Vordergrund stelle. Doch erste Veränderungen seien sichtbar. In Japan ist zum Beispiel Shinrin-yoku verbreitet, was übersetzt so viel bedeutet wie «Einatmen der Wald-Atmosphäre». Shinrin-yoku wird vom staatlichen Gesundheitswesen gefördert und an japanischen Kliniken und Universitäten erforscht und gefördert. Die wissenschaftliche Erklärung für Shinrin-yoku und den «Entspannungsfaktor Wald» leuchtet ein: Durch das Sonnenlicht wird das Wohlfühlhormon Serotonin verstärkt ausgeschüttet. Serotonin kann die Übertragung von Schmerzimpulsen hemmen und dadurch Schmerzen lindern.

Gleichzeitig lenkt die Natur von Schmerzen ab. Wer sich in ein wunderschönes Naturfotografie-Buch vertieft, schenkt dem Schmerz weniger Aufmerksamkeit und entspannt. Bestimmte Walddüfte wirken zusätzlich auf den Menschen. Durch Inhalation von Zedernöl kann zum Beispiel der Blutdruck gesenkt werden. Der Wald als Ablenker. Und wie steht es mit dem Heilen?

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Autor Clemens Arvay ist überzeugt von der heilenden
Wirkung der Natur.
Bild: zVg

«Die Biophilie-Hypothese hat nichts mit Bäumen per se zu tun und auch nicht in erster Linie nur mit heilenden Effekten. Biophilia meint die biologische Prädisposition des Menschen, sich auf Natur und insbesondere andere Lebewesen auszurichten. Damit können auch Phobien erklärt werden», sagt Karin Hediger. Die studierte Psychologin forscht am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel zur Mensch-Tier-Beziehung. Sie ist Geschäftsführerin des Schweizer Instituts für Interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung (IEMT). Hedinger betont: «Es gibt immer mehr Studien, die naturgestützte Therapien erforschen. Jedoch besteht bei gewissen Personen die Tendenz, dies als allumfassende Erklärung auszulegen und esoterisch zu benutzen.»

Dass die Wirkung der Natur auf den Menschen nicht ganz spurlos an der modernen Schulmedizin vorbeigeht, zeigt die Haltung von einigen Krebsforschern. Sie halten Terpene für einen entscheidenden Wirkstoff der zukünftigen Krebsmedikamente. «Die wirksamsten Terpene sind Limonene und Pinene. Sie werden von Nadelgehölzen und immergrünen Pflanzen mehr abgegeben als von Laubgehölzen», erklärt Buchautor Arvay. Für den Einsatz in Arzneimitteln werden die Terpene aber in Zukunft aus hoch konzentrierten Pflanzenölen gewonnen werden, etwa aus Zedern-, Kiefern-, Tannen- oder Fichtenöl. So könnte der Wald in Zukunft auch so seine Heilwirkung entfalten.

Literaturtipps:

  • Clemens G. Arvay: «Der Heilungscode der Natur – die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken», gebunden, 256 Seiten, Verlag: Riemann, ISBN: 978-3-570-50201-3, ca. Fr. 23.–
  • Clemens G. Arvay: «Der Biophilia-Effekt – Heilung aus dem Wald», gebunden, 253 Seiten, Verlag: edition a, ISBN: 978-3-990-01113-3, ca. Fr. 19.–