Der Blick der meisten Menschen auf die Erde ist ziemlich oberflächlich. Derjenige von Michel Roggo geht tiefer. Der Fotograf aus Freiburg taucht mit seiner Kamera buchstäblich unter die Oberfläche ab, dringt ein in Süsswassergewässer auf der ganzen Welt, in die Felsformationen der Verzasca, zu den Buntbarschen im Malawisee, in hellblau leuchtende Becken in China und in die rotgelben Unterwasserlandschaften des Etang de la Gruère im Kanton Jura. «Freshwater Project», Süsswasserprojekt, heisst das Unterfangen, das er nach sieben Jahren Arbeit nun abgeschlossen hat: das Fotografieren aller wichtigen Süsswasser-Gewässertypen auf der ganzen Welt.

Was er gesehen hat und in einem Fotoband sowie aktuell in einer Sonderausstellung im Naturhistorischen Museum Freiburg mit den Besuchern teilt, sind wunderhafte Märchenwelten, fernab aller menschlicher Sorgen – scheinbar. Doch zu lange und gründlich hat Roggo das Leben im Süsswasser schon beobachtet, um auf diesen naiven ersten Eindruck hereinzufallen. Zu deutlich erinnert er sich zumindest in seiner Heimat, dem Kanton Freiburg, daran, dass es früher anders aussah, dass in der Sense Forellen statt Alet und Barben schwammen und die Kiesbänke in der Saane einst schwarz vor lauter Nasen waren, einer Fischart, die inzwischen vom Aussterben bedroht ist.

Klimawandel bedroht alle Gewässer
Zwar gibt es durchaus auch positive Trends zu verbuchen. Ein Fischsterben, wie es die Phosphate aus der Landwirtschaft 1984 im Sempachersee auslösten, droht zumindest in der Schweiz nirgends mehr – die Gesetze schützen die Gewässer. Und während noch vor einigen Jahrzehnten Flüsse am Laufmeter begradigt und kanalisiert wurden, wird ihnen nun wieder mehr Platz gegeben, sie werden revitalisiert und die Kraftwerke für Fische durchgängig gemacht.  

Doch inzwischen bedrohen andere Gefahren das Leben in den Flüssen. Dem Bundesamt für Umwelt bereiten in der Schweiz zum Beispiel Mikroverunreinigungen Sorge. Das können Pestizide sein, aber auch Rückstände von Medikamenten und Kosmetika, die von den Abwasserreinigungsanlagen nur ungenügend herausgefiltert werden können. Und sogar die Erfolge in puncto Naturschutz haben Schattenseiten: Die fischfreundlichen Umgehungsrinnen bei den Kraftwerken werden nicht nur von den einheimischen Fischen genutzt, sondern auch von fremdländischen Arten, die die hiesigen verdrängen.

Doch es ist eine andere Bedrohung, der Roggo in praktisch jedem der über vierzig Gewässertypen, die er fotografiert hat, begegnet ist: der Klimawandel. Angefangen eben bei den verschwundenen Forellen in der Sense, denen das Wasser im Sommer schlicht zu warm ist, wie er sagt. Weiter über das Pantanal-Sumpfgebiet in Brasilien, wo die Bevölkerung über heftige Stürme klagt, die es früher nie gegeben habe. Bis hin zur Antarktis, wo Roggo Flüsse und Seen auf dem Eis fotografierte – in einer Gegend, wo ihm sein 75-jähriger Guide versicherte, dort nie zuvor Schmelzwasser gesehen zu haben.

Affenexkremente als Nahrung
Roggo weiss, dass er selber mit seinen Reisen zur Erwärmung des Klimas beiträgt. Das «Making of»-Video, das im ersten Raum der Sonderausstellung in Freiburg auf die Leinwände projiziert wird, zeigt es: Flugzeuge, Helikopter, Motorboote, Schneemobil. Viele Orte wären ohne Benzin und Diesel schlicht nicht erreichbar gewesen. Und doch gibt es Hinweise darauf, dass der Fotograf mit seinem Unterfangen insgesamt der Natur etwas zuliebe getan hat. Die Weltnaturschutzunion schrieb ihm, dass das Schaffen eines Bewusstseins für die Schönheit der Süsswasserlebensräume durch Bilder wie die seinen ein «äus­serst wichtiger Beitrag (...) zur Wertschätzung und Erhaltung der Natur» sei.
Zwar wählte Roggo die Gewässer für sein Süsswasserprojekt mit dem Blick des Fotografen aus, nicht mit demjenigen des Naturschützers. Doch er geht mit offenen Augen durch die Welt und sieht über die Ränder der Gewässer hinaus. Denn der Lebensraum Süsswasser endet nicht an der Wasseroberfläche. So beobachtete er in Borneo in einem Fluss, der aus ihm rätselhaften Gründen pflanzenlos ist, wie sich Fischschwärme unter den Bäumen aufhielten und sich von den herunterfallenden Nahrungsresten und Exkrementen von Affen und Papageien ernährten.

Saharasand im Gletschersee
Umgekehrt nehmen Gewässer auch Einfluss auf die Umgebung. «Einen Fluss zu schützen, ist gut für die Fledermäuse», erklärt er. Denn diese können sich von den Insekten ernähren, die im und um das Gewässer leben. Ein anderes Beispiel sind die Lachse, die nicht nur Bären ernähren. Die Speiseresten der Grizzlys sind in den Uferzonen der Flüsse jahreszeitlich Nahrungsquelle für kleinere Tiere und Dünger für Pflanzen.

«Wasser und Tiere» ist einer der fünf Themenbereiche, in die die Ausstellung in Freiburg aufgeteilt ist, und ein tropfnasser Braunbär aus Kamtschatka blickt vom Ausstellungsplakat. Ein für das Projekt eher untypisches Bild, schon weil Roggo es über, nicht unter der Wasseroberfläche aufgenommen hat. Doch der Bär spricht ein breites Publikum an, lockt es ins Museum, wo die Besucher sich dann unverhofft in andere Gewässer vertiefen, sich durch die Fotos auf den Bildschirmen klicken und in den Diashows verlieren, mit dem Fotografen in die Alpen steigen und auf dem Gornergletscher die Saharasand-Dünen am Grund eines Schmelzwassersees entdecken oder sich in eine Höhle in Brasilien abseilen und dort 18 Meter tief ins Wasser eintauchen.

«Ein Fluss ist wie ein Lebewesen», sagt Roggo. Und diese Lebewesen beginnen die Betrachter seiner Bilder zu spüren. Einzigartige, zerbrechliche Lebewesen, die Schutz brauchen. Aber eben auch scheue, wenig bekannte Lebewesen, den Blicken der Menschen verborgen, wenn nicht gerade Roggo sie ins Rampenlicht stellt. «Ich wollte dem Süsswasser ein Bild geben», sagt Roggo. «Und ich hoffe, dass die Bilder von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern gebraucht werden.»

Mit seinen Vorträgen, seinem Buch und der Ausstellung trägt er auch selber zu ihrer Verbreitung bei. Besonders gut gefällt ihm, wenn es ihm gelingt, damit Kinder anzusprechen. Kürzlich habe ihm ein Fünfjähriges gesagt, es wolle auch mal so etwas machen. In solchen Momenten habe er das Gefühl, dass seine Arbeit für das Projekt, in das er unglaublich viel Zeit und auch ziemlich viel Geld gesteckt hat, nicht vergebens gewesen sei.



Der Fotoband:
Michel Roggo: «Aqua – wasser.eau.water», Verlag Werd & Weber, ISBN: 978-3-85932-836-5, ca. Fr. 39.–

Die Sonderausstellung:
«Aqua – michel.roggo.photographie», Naturhistorisches Museum Freiburg, bis 28. Januar 2018. Infos finden Sie hier.