Im März herrscht höchste Alarmstufe im Tessiner Wald. In keinem anderen Monat ereignen sich hier mehr Waldbrände, denn Regen gibt es auf der Alpensüdseite meist sehr wenig. Waldbrände verursachen Angst und Schrecken – und können innert Minuten die Leben vieler Pflanzen und Tiere zerstören.

Trotzdem haben Waldbrände auch positive Seiten. Einige Tier- und Pflanzenarten im Wald sind sogar auf Feuer angewiesen, um zu überleben. Er sei sogar froh, wenn es ausserhalb von Siedlungsgebieten ab und zu brenne, sagt Marco Moretti, Projektleiter an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, die in Bellinzona eine Forschungsstation unterhält. «Für die Dynamik der Natur ist ein Waldbrand wie frische Luft und deshalb im ökologischen Sinn von Zeit zu Zeit nötig.» Bei ihren Untersuchungen haben der 54-jährige Moretti und seine Kollegen im Tessin und im Wallis mehrere feuerliebende (im Fachjargon: pyrophile) Tier- und Pflanzenarten erstmals in der Schweiz gefunden.

Vermehrung in verbrannter Asche
Eine dieser Arten ist ein nur 4 bis 6 Millimeter grosser Käfer, mit seiner schwarzen Färbung eher unscheinbar, aber ein gewiefter Räuber. Denn der Laufkäfer Sericoda quadripunctatum ist sofort zur Stelle, wenn es im Tessin irgendwo brennt; dann ist sein Futtertisch so reich gedeckt wie sonst nie. Er ernährt sich von den Insekten, die unter verkohlter Rinde leben, und macht auf diesen Brandflächen leichte Beute. «Dieser Laufkäfer vermehrt sich auf den abgebrannten Flächen, sodass er an diesen Stellen einige Monate später meist in grosser Anzahl unter verkohlten Holzstücken oder unter Rindenschuppen zu finden ist», sagt Moretti. Der Käfer scheint stark auf Feuer angewiesen zu sein, denn ausserhalb von Brandstellen wurde er bisher nur sehr selten gefunden.

Dasselbe gilt für die Wanzenart Aradus lugubris, die dank spezieller Rauchsensoren Waldbrände aus der Ferne lokalisieren kann und dorthin fliegt, um sich von Pilzarten zu ernähren, die auf Brandflächen besonders häufig sind. Auf der Brandfläche hat die Wanze keine Konkurrenten zu fürchten – und sie legt ihre Eier in die basische und noch lauwarme Asche, wo sich die Larven optimal entwickeln können.

Für Moretti der Feuerspezialist schlechthin aber ist der Schwarze Kiefernprachtkäfer (Melanophila acuminata). Er ist etwa einen Zentimeter lang, einfarbig schwarz und kann ohne verbrannte Asche gar nicht leben, «weil die Weibchen ihre Eier nach der Paarung in die warme Asche oder in den Bast der noch glimmenden Bäume legen und die Larven sich am frisch verbrannten Holz ohne Fressfeinde ernähren können», wie Moretti sagt.

Angelockt werden die paarungsbereiten Käfer durch das sogenannte Guajacol, einen Pflanzenstoff, den rauchende Bäume freisetzen. Die Käfer nehmen diesen Pflanzenstoff mit chemischen Sinnesrezeptoren in den Fühlern wahr, und dies selbst bei Feuern in mehreren Kilometern Entfernung. «Die weitere Orientierung erfolgt dann mit infrarot­empfänglichen Sensoren an den Hüften, die Feuersbrünste ebenfalls über beträchtliche Distanzen orten können», sagt Moretti.

Auf das ausgereifte Ortungssystem des Kiefernprachtkäfers sind auch Bioniker aufmerksam geworden, also Forscher, die sich mit dem Übertragen von Phänomenen der Natur auf die Technik beschäftigen. Sie versuchen den Käfer zu imitieren und eine «technische Nase» zu entwickeln, die in der Lage ist, Gase geringster Konzentrationen zu bestimmen und zu orten – etwa um rascher Brandmeldungen auszulösen.

Auch unter den Pflanzen gibt es feuerliebende Arten. Ganz zuoberst auf dem Radar Morettis steht die Salbeiblättrige Zistrose (Cistus salviifolius). Diese mediterrane Art lebt schweizweit nur an ganz wenigen Orten im Tessin und ist nicht nur auf Feuer angewiesen – zuweilen legt sie sogar selber Brände! «Die Blätter der Zistrose enthalten sehr viele ätherische Öle, die bei heissem Wetter in die Luft steigen und bei einem Blitzschlag regelrecht explodieren – der Wald brennt», erklärt Moretti den Vorgang.

Die Samen der Zistrosen lieben den warmen Brandboden, keimen darauf schnell und verdrängen andere Pflanzen, die nach dem Brand noch nicht nachwachsen konnten. Nach etwa 10 bis 20 Jahren ist die Vegetation wieder nachgewachsen und hat die pyrophile Pflanze wieder verdrängt. «Um grossflächig am Waldboden zu überleben, braucht die Zistrose also mindestens alle 20 Jahre einen Waldbrand», sagt Moretti nüchtern.

Waldbrände erhöhen die Artenvielfalt
Nach Waldbränden, das zeigen Morettis Untersuchungen, erholt sich die Natur rasch und die Artenvielfalt ist danach oft sehr hoch. «In regelmässig von Waldbränden heimgesuchten Kastanienwäldern der Südschweiz ist der Artenreichtum der Insekten signifikant höher als in ungebrannten Kontrollflächen», sagt Moretti.

Dass aus einem artenarmen Waldgebiet durch einen Waldbrand ein sehr artenreicher Lebensraum entstehen kann, zeigt auch das Beispiel des Jahrhundertbrandes von 2003 in Leuk im Kanton Wallis, bei dem eine Waldfläche von rund 400 Fussballfeldern verbrannte. So wurden auf der Waldbrandfläche viele Heuschreckenarten gefunden, die im intakten Wald nicht vorkommen. Auch bei den Pflanzen erlebten die Forscher in Leuk Erstaunliches: Bereits ein Jahr nach dem Feuer bedeckten Arten wie das Rote Seifenkraut oder das Waldweidenröschen das basische Aschesubstrat – und mit dem Erdbeerspinat schoss gar eine ausgestorben geglaubte Pflanzenart überall aus dem Boden.

Der Waldbrandkanton schlechthin in der Schweiz ist aber nicht das Wallis, sondern das Tessin. Hier brennt der Wald gemäss Statistik durchschnittlich rund 30 Mal pro Jahr. Und wegen der Klimaerwärmung werden Waldbrände in Zukunft wohl noch häufiger werden. Das mag für betroffene Siedlungsgebiete unter Umständen tragische Folgen haben. Für die feuerliebenden Arten hingegen sind die Brände eine Art Lebenselixier.

Trotzdem müssen die Bedürfnisse dieser Lebewesen nicht unvereinbar sein mit jenen von uns Menschen: Denn feuerliebende Arten brauchten keine grossen Brände, sagt Moretti. «Im Gegenteil: Es ist sogar besser, wenn diese Brände kleinflächig ausbrechen, dafür aber regelmässig.»