Irgendwo vor den Toren von Zürich am Ende eines matschigen Feldwegs steht eine kleine Gartenanlage. In der Dämmerung reiht sich Blumentopf an Blumentopf. Ihr Inhalt sind weder Astern noch Tagetes. Stattdessen steht ein lebendig gewordenes Abbild der Roten Liste des Kantons Zürich vor mir. Darunter finden sich Küchenschelle (Pulsatilla vulgaris), Gelblicher Klee (Trifolium ochroleucon), Scharfkantiger Lauch (Allium angulosum), Knabenkraut (Orchis sp.) oder Moor-Veilchen (Viola stagnina). 

Die Fachstelle Naturschutz des Kantons Zürich hat hier insgesamt 150 verschiedene Arten versammelt, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. Der Garten ist die logistische Drehscheibe für die Wiederansiedlung dieser Pflanzen vom Sihltal bis zu den Grenzen Schaffhausens. Kurz vor Sonnenaufgang fahren ein Auto und ein Kleinlastwagen vor. Sechs Helferinnen und Helfer steigen aus. Sie laden Kisten mit über hundert Töpfen des Gelblichen Klees und einigen Dutzend Küchenschellen auf. 

Damit eine Art wieder angesiedelt werden kann, muss vieles stimmen
Um dem Morgenverkehr auszuweichen, geht es auf Nebenstrassen an den Stadtrand von Winterthur. Wir halten am Fuss eines 50 Meter hohen künstlichen Hangs einer ehemaligen Kiesgrube. Nieselregen setzt ein; Gummistiefel werden angezogen. Karin Sartori vom Umweltbüro topos geht die Checkliste durch: «Pflock, Metallschrauben, Massband, Meter, Schnur.» Dann kämpft sich der kleine Trupp mit Kisten, Pickel und GPS-Gerät beladen die Aufschüttung hoch. Der Untergrund hat die Konsistenz von warmer Schokolade, die mit Krokantstücken durchsetzt ist. Der Boden ist noch jungfräulich und das Gras spriesst erst spärlich. «Das sind die besten Bedingungen für die Ansiedlung von bedrohten Pflanzen», sagt Sartori. Denn wo es noch keine anderen Pflanzen gibt, gibt es auch keine Konkurrenz um Nährstoffe und Boden.

Sartori ist eine Art Partnervermittlerin für bedrohte Arten. Sie bringt eine Pflanze mit dem passenden Lebensraum zusammen. Da müssen die Bodenbeschaffenheit, die Nährstoffe, die Lichtverhältnisse und das Wasser­angebot stimmen. Sonst sterben die Zöglinge gleich wieder ab. Zudem sollten die neuen Lebensräume möglichst nahe bei der ursprünglichen Population liegen und langfristig erhalten bleiben.

Oben auf der Kiesgrube gibt es eine ebene Fläche gleich neben den Gleisen der Regionalbahn. Sartori und ihre Mitarbeitenden legen ein Massband aus. Sie stecken drei Reihen zu je zwanzig Meter Länge ab. Das geometrische Vorgehen erleichtert später die Erfolgskontrolle. Auf jeden Meter setzen sie einen Topf mit Gelblichem Klee. Einer gräbt mit einer Hacke Löcher in den steinigen Boden.

Das Pflanzenrettungsprojekt ist inspiriert von der Ansiedelung der Steinböcke
«Jetzt vor dem Winter ist es wichtig, dass die Pflanzen gut, aber nicht zu fest angedrückt werden. Es darf keine Hohlräume mehr unter dem Ballen haben, sonst kann sich dort Wasser sammeln, das beim Gefrieren die Pflanze aus der Erde rausdrückt», sagt Sartori. Es dauert rund 30 Sekunden, bis eine Pflanze fachgerecht in der Erde steckt. «In meiner Karriere habe ich bereits 10 000 Pflanzen gesetzt», sagt Sartori. Das macht rund zweihundert Stunden auf dem Boden kauern und im Dreck wühlen – alles für den Naturschutz.

Begonnen hat das Projekt ganz bescheiden in den 1990er-Jahren. Andreas Keel von der Fachstelle Naturschutz erinnert sich: «Vor rund 20 Jahren stellte ich beim Suchen von gefährdeten Arten fest, dass es zum Teil nur noch wenige Individuen am natürlichen Standort gab. Diese drohten trotz Biotopschutzmassnahmen ganz auszusterben.» Zum Beispiel das Gnadenkraut (Gratiola officinalis). Von ihm wuchsen damals nur noch wenige Dutzend Exemplare am Zürichsee. Keel wollte den Pflanzen helfen. Er erinnerte sich an das grosse Wiederansiedlungsprojekt mit Steinböcken in der Schweiz. Nach der vollständigen Ausrottung dieser Tiere setzte man sie ab 1910 wieder in den Alpen aus. Heute stammt die gesamte 16 000-köpfige Schweizer Population von diesen wenigen Vorfahren ab. Das Projekt war ein voller Erfolg. 

Angespornt von den Steinböcken kartierte Keel zuerst den Bestand der letzten Überlebenden des Gnadenkrauts und brach dann einige von deren Seitentrieben ab. «Zu Hause stellte ich sie ins Wasser und siehe da, sie trieben Wurzeln.» In seinem Privatgarten zog er die Triebe heran und pflanzte sie danach bei neuen Standorten aus. «Nach und nach kamen viele weitere Arten dazu.» 

Heute ist das Projekt so gross, dass die Fachstelle Naturschutz auf ein Heer von freiwilligen Mitarbeitenden angewiesen ist. 70 Privatpersonen ziehen ausgewählte Wildpflanzen in ihren Gärten auf. Dazu bekommen sie die Samen in einem Brief mit Anleitung nach Hause geschickt. «Jeder, der grundlegende Gartenkenntnisse hat, kann das machen», sagt die Leiterin des Projekts, Regula Langenauer von topos. Bei besonders schwierig zu vermehrenden Pflanzen, wie etwa den Orchideen, werden Experten zugezogen. Damit Orchideensamen in der Natur keimen, benötigen sie einen Pilz, der sie mit Nährstoffen versorgt. Ohne Bio-Labor kommt man da auf keinen grünen Zweig. Im Herbst geben die freiwillig Mitarbeitenden ihre Zöglinge bei topos ab. Sie sind nun bereit zum Auspflanzen. «Der Herbst ist der Höhepunkt des Jahres für uns», sagt Sartori. Alles muss vor dem Wintereinbruch in den Boden. 

Nicht alle ausgewilderten Pflanzen setzen sich an ihrem neuen Standort durch
Inzwischen sind 60 Setzlinge des Gelblichen Klees fest in ihrem neuen Zuhause verankert. Die Helferinnen und Helfer erfassen die Koordinaten der Anfangs- und Endpunkte jeder Reihe. Dann werden noch zwei Holzstangen an den beiden Enden der drei Reihen eingeschlagen. Sie erleichtern das Wiederauffinden, da der Gelbliche Klee aufgrund von Trockenheit nächstes Jahr bewässert werden muss. Einer der Helfer verdreht die Augen, wenn er daran denkt, mit vollen Giesskannen diesen Hang hochklettern zu müssen.

Sämtliche Daten zu diesem neuen Wuchsort trägt Sartori anschliessend in eine digitale Karte ein. Dort sind alle der 250 Standorte der bis heute 75 000 ausgewilderten Pflanzen verzeichnet. Nicht alle Auspflanzungen waren von Erfolg gekrönt. Für die Kleine Schwarz­wurzel (Scorzonera humilis) etwa gibt es zu wenige geeignete Ansiedlungsorte und die Aufzucht erweist sich als schwierig. «Generell ist das Hauptproblem im Naturschutz die fehlende Anzahl, Grösse und Qualität von geeigneten Lebensräumen», sagt Keel. Ein weiterer Störfaktor sind ausgerechnet Pflanzenliebhaber. «Manche Leute sehen eine unserer Küchenschellen beim Spazieren und graben sie gleich aus, um mit ihr ihren eigenen Garten zu verschönern», sagt Sartori.

Zu den grössten Erfolgen gehört das Gnadenkraut. Aus der ersten Neuansiedlung am Greifensee haben sich wohl über 10 000 Pflanzen entwickelt. Diese Art kommt nunmehr an 15 Stellen im Kanton vor. Ebenfalls weit gebracht haben es der Raue Alant (Inula hirta), das Graue Fingerkraut (Potentilla inclinata) und der Kleine Rohrkolben (Typha minima). Ruhen können die Naturschützer trotzdem nicht. «Viele Lebensräume wie Magerwiesen oder Moore werden immer seltener», sagt Keel. «Überdies wird der Klimawandel vielen Arten das Leben am bisherigen Ort schwer machen.» Darum wünscht sich Keel für die Zukunft seines Projekts nur eines: «Ich hoffe, dass der Elan anhält und sich weitere Interessierte beteiligen.»