Es vergeht kaum ein Tag ohne negative Schlagzeilen zum Klimawandel: «Rehkitze werden Opfer des Klimawandels», «Klimawandel droht Rentiere in Nord­ostamerika auszurotten», «Klimawandel treibt Frosch zu höheren Tönen». Kein Wunder, dass der Weltklimarat eindringlicher denn je vor den Folgen der Erderwärmung warnt.

Doch es gibt auch eine andere, medial weniger beachtete Seite der Medaille. Der Alpensteinbock beispielsweise ist nicht nur der König der Berge, sondern auch ein Gewinner der globalen Erwärmung. Das einst in der Schweiz ausgerottete Tier profitiert vom Klimawandel. Höhere Frühlingstemperaturen und weniger Schnee verbessern das Nahrungsangebot. Darauf sind die Paarhufer nach den tristen Wintermonaten angewiesen. «Am Ende der kalten Jahreszeit zehren die Alpensteinböcke von ihren letzten Fettreserven», sagt Kurt Bollmann von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL. Je eher wieder Kräuter und Gräser spriessen, desto schneller kommen die Tiere zu Kräften.

Höhere Baumgrenze mit negativen Folgen
Um herauszufinden, welchen Einfluss das Klima auf die Gesundheit der Steinböcke hat,  untersuchte Bollmann zusammen mit seinem Kollegen Ulf Büntgen und einem internationalen Forschungsteam die Hörner von mehr als 8000 Bündner Alpensteinböcken. Aus gutem Grund: Jedes Jahr bilden die Hörner einen dunklen Ring, an dem sich die Vitalität der alpinen Kletterkünstler ablesen lässt – ähnlich wie bei einem Baum. Bei den Steinböcken nahm die hauptsächlich aus Keratin bestehende Hornsubstanz in den letzten Jahren merklich zu. Dies spreche dafür, dass die Tiere früh im Jahr an Gräser gekommen seien und dass sie damit zumindest in körperlicher Hinsicht vom Klimawandel profitieren würden.

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 Der Seidenreiher findet mehr Brutplätze in der wärmeren Schweiz.
 Bild: J.M. Garg/wikimedia.org

Doch wie äussert es sich überhaupt, wenn Tiere auf der Gewinnerseite der Klimaveränderung stehen? «Wichtig sind ein erweitertes Vorkommensgebiet, bessere Vitalität, wie eben beim Alpensteinbock nachgewiesen, oder bessere Überlebensraten», erklärt Bollmann. 

Obwohl Klimatologen die Zahl der tierischen Klimagewinner nicht beziffern können, sind sie sich einig, dass es eindeutige Profiteure gibt. Zu ihnen zählen beispielsweise Seidenreiher, Bienenfresser und Kurzzehenlerchen. Diese Brutvögel tauchen nicht mehr wie früher ausschliesslich im Mittelmeergebiet auf, sondern auch in der Schweiz. «Durch das mildere Wetter finden diese Vogelarten eher Nahrung und Brutplätze», erklärt Michael Schaad von der Vogelwarte Sempach. Er steht den Folgen des Klimawandels aber dennoch kritisch gegenüber. «Durch die höheren Temperaturen steigt die Baumgrenze immer weiter an, was für viele Vögel problematisch ist», sagt Schaad. «Es sind sicher mehr Arten bedroht, als einwandern.»

Gewinner verdrängen andere Arten
In das gleiche Horn bläst Roland Schuler von Pro Natura. Er macht keinen Hehl daraus, dass wärmeliebende Tiere wie die Feuerlibelle oder der Brombeer-Perlmutterfalter die Artenvielfalt in der Schweiz dank der höheren Temperaturen zumindest kurzfristig bereichern würden. Auf längere Sicht können die Neobioten aber auch einheimische Arten konkurrenzieren und verdrängen. Schuler gibt ausserdem zu bedenken, dass «der vom Mensch gemachte Klimawandel die einheimische Fauna und Flora zur Anpassung zwingt, was ohne diesen grenzenlosen und grossflächigen Natur- und Umwelteingriff nicht nötig wäre.»

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 Früher gab es weniger Arten des Schnee-Felsenblümchens.
 Bild: Kim Hansen/wikimedia.org/CC-BY-SA

Es gibt aber auch ein aktuelles Beispiel, in dem die Erderwärmung für eine regelrechte Explosion der Artenvielfalt sorgt. So haben Schweizer, norwegische und kanadische Forscher in einer Studie beobachtet, dass der Klimawandel die arktischen Schnee-Felsenblümchen (Draba nivalis) in Hunderte neu entstehende Arten zersplittert. Die Wissenschaftler um Christian Parisod von der Universität Neuenburg haben entdeckt, dass sich diese neuen Arten durch zahlreiche winzige Genveränderungen unterscheiden. Zudem hätten sich die Kreuzblütengewächse rund um den Nordpol ausbreiten können. Sie würden heute einen Gürtel besiedeln, der durch Alaska, Grönland, Norwegen und Russland reiche.

Eine wichtige Erkenntnis ist die Tatsache, dass sich die Felsenblümchen aus verschiedenen Regionen nicht mehr miteinander fortpflanzen können. «Wir konnten zeigen, dass die Klimaerwärmung in diesen Regionen dazu tendiert, Barrieren zwischen Arten zu errichten», erklärt Parisod. Damit trage sie dazu bei, in der dortigen Flora eine gewisse Vielfalt aufrechtzuerhalten. Dies sei überraschend, da meist angenommen werde, dass der Klimawandel insbesondere in den Polarregionen die Artenvielfalt reduziere.

Von den Profiteuren gibt es schon viele
Trotzdem sind sich die Experten einig, dass es keinen Anlass zu einer Euphorie hinsichtlich des Klimawandels gibt. Kurt Bollmann räumt zwar ein, dass es vor allem unter den Insekten eine grosse Gruppe gibt, die von der Erderwärmung profitiert. Auf der anderen Seite leiden aber viele Kälte-adaptierte Arten unter dem Klimawandel. «Naturschutzfachlich ist das ein bedeutender Verlust, weil es sich dabei meistens um Lebensraumspezialisten der Alpen handelt, die dann ganz aus unserem Land verschwinden», sagt Bollmann. «Die profitierenden Arten kommen dagegen ohnehin schon zahlreich im Mittelmeerraum vor.» Es gehe also weniger darum, dass sich bestimmte Arten immer stärker ausbreiten, als vielmehr um die Artendiversität und -zusammensetzung sowie die Seltenheit. Und diesbezüglich bringt der Klimawandel eindeutig mehr Verlierer als Gewinner hervor.