Es ist die Ruhe, die in «Honeyland» zuallererst ins Ohr sticht. Und ins Auge. Denn die Ruhe ist nicht nur eine akustische, sondern auch eine landschaftliche. Eine friedliche Leere in einem verlassenen Dorf in den Bergen Nordmazedoniens.
Bewohnt ist die Siedlung einzig von Hatidze und ihrer Mutter, die alt, lahm und halb blind vom Leben nicht mehr viel erwartet. Dazu: Bienen. 

Schnitt. Die Kamera hält auf einen der selbstgebastelten Bienenstöcke. Hatidze lupft den Deckel mit unbehandschuhten Händen und lässt das Summen anschwellen. Unwillkürlich presst der Kinobesucher die Lippen zusammen, als umschwirrten die Bienen sein eigenes Gesicht. Die Imkerin greift sich eine honigtriefende Wabe und singt ein uraltes Lied, um die Bienen zu besänftigen. Sie nimmt sich, was sie braucht, um es später auf dem Markt in der Hauptstadt zu verkaufen.  Sagt leise zu den Tieren: «Die Hälfte ist für mich, die Hälfte für euch» und lässt die Bienen wieder in Ruhe.

Hatidze Muratova, von der «Honeyland» handelt, hat gelernt, wie Teilen geht. Wie die Natur sich nachhaltig nutzen lässt. Ihr Handwerk wird unter anderem auch von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit als Umweltschutzprojekt gefördert. Als Projekt, das, so wird der
Dokumentarfilm noch zeigen, auf dünnen Beinen steht. 

Mit dem Lärm kommt die Wucht
Mehr als drei Jahre lang haben die beiden Regisseure Ljubomir Stefanov und Tamara Kotevska Hatidze und ihre Mutter begleitet und sich damit gleich zwei Oscar-Nominationen verdient: diejenige als bester Dokumentarfilm und diejenige als bester ausländischer Film. Ob es für eine goldene Statue reicht, wird am kommenden Sonntag auskommen.

Steht die Dokumentation anfangs sinnbildlich für das erstrebenswerte Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur – halbe-halbe –, gewinnt der Film seine wahre Wucht erst, als es laut wird. Motorenlärm. Kindergeschrei. Kuhgebrüll. Ins verlassene Dorf zieht eine Grossfamilie ein, Wanderhirten, die hier ihre Zelte aufschlagen. Nomadische Balkantürken, wie Hatidze selber auch. Vorbei ist die Ruhe für Hatidze und ihre Mutter. 

Doch die Imkerin lässt sich nicht aus dem Konzept bringen, freundet sich mit der Familie an – sie weiss schliesslich, wie Teilen geht. Es ist genug für alle da, sagt sie, wie sie es zu ihren Bienen auch sagt. Nur hat der zugezogene Familienvater das Konzept nicht halb so gut verstanden. Er findet Faszination an
Hatidzes Imkerei, will es selber auch probieren und kauft sich Fertig-Bienenstöcke.

Gleichgewicht in Gefahr
Der Mann lässt sich von der alteingesessenen Expertin anleiten, hört ihr zu, wenn sie ihr Mantra wiederholt: «Die Hälfte für mich, die Hälfte für sie.» Aber das Familienoberhaupt will mehr als die Hälfte. Dass das nicht harmonisch enden kann, scheint spätestens jetzt klar. Das Mensch-Natur-Gleichgewicht kippt zur Seite und macht einem neuen Sinnbild Platz: demjenigen von der Zerbrechlichkeit der Natur unter dem dicken Daumen des Menschen.

Mit «Honeyland» erreicht uns ein Meisterwerk aus Nordmazedonien, das mehr als ein erhobener Zeigefinger im Sinne des Naturschutzes darstellt. Der Film erzählt auch zwei ganz intime Familiengeschichten. Eine davon handelt von Ruhe und Mutterliebe. Sie braucht nicht viele Worte. Und die andere ist laut und wild wie eine Grossfamilie. Oder wie ein Bienenvolk.