Alle verwilderten Haustauben, die in unseren Städten umherfliegen, stammen ursprünglich von der Felsentaube der Mittelmeerklippen ab. Schon in der Antike wurden diese Tauben unter anderem zur Fleischproduktion genutzt und über die Jahrhunderte allmählich domestiziert. Als eigentliche Felsbewohner fanden sich entwichene Haustauben bestens in unseren sich mehr und mehr entwickelnden Städten zurecht. Ohne züchterische Einmischung durch den Menschen verwilderten sie nicht nur, sondern mutierten auch allmählich wieder zur Ursprungsform (Wildfarbe). Daher sehen heutige Stadttauben oft geradezu identisch aus wie ihre Vorfahren.

Bei einem Venedigaufenthalt kann man das touristische Verhalten gegenüber den Tauben gut beobachten. Auffallend ist dabei, wie Menschen, die sonst Tiere vermutlich eher scheuen oder ignorieren, plötzlich Gefallen an diesen «venezianischen Vögeln» finden. Natürlich ist es eine Attraktion, sich mit den sehr zutraulich gewordenen Tieren ablichten zu lassen. Meist zögern die Menschen erst einmal, weichen kreischend den heranfliegenden Tauben aus, locken sie dann doch wieder an, um schliesslich stolz lächelnd eine ganze Taubentraube um und über sich scharend zu füttern. Ist das Foto gelungen, schenken die gleichen Menschen den Tieren keine Beachtung mehr und scheuchen sie sogar weg. Die Tauben dienen ihnen also lediglich als attraktives Sujet – sie empfinden keinerlei Sympathie für sie.

Es gibt aber auch andere Menschen. Meist sind dies einheimische Bewohner der Stadt. Sie reden mit den Tauben und teilen ihnen Futter aus; strahlen, wenn eine oder mehrere Tauben ihnen auf Hände, Arme, Schultern oder gar auf den Kopf fliegen. Sie verteilen das Futter so, dass auch scheuere, rangniederere Tiere etwas erhalten. Bei diesen Menschen ist eine echte Beziehung zu den Tauben spürbar.

Der coolste Jugendliche war der, der sich getraute, eine Taube anzufassen
In Venedig ist es nicht anders als bei uns. Kinder nutzen ihre Dominanz diesen friedlichen Vögeln gegenüber oft schamlos aus. Sie treten nach ihnen und rennen ihnen gezielt hetzend nach, um sie zum Auffliegen zu zwingen. Die Kinder leben deutlich ihre Jagdlust und den Spieltrieb aus. Wird ihnen dann von Erwachsenen etwas Futter spendiert, entpuppen sie sich plötzlich als friedliche, grossherzige Futterspender. Kinder zeigen also ein sehr ambivalentes Verhalten den Tauben gegenüber, wobei das Ego und der Spass gegenüber dem Verständnis für die gefiederten Tiere dominieren.

Sehr interessant war die Begegnung einer Jugendgruppe mit den zutraulichen Tauben. Angezogen von den sich drängenden Tauben, traten diese jungen Menschen zaudernd aber lärmend und gestikulierend mitten in die Schar. Bewundert wurde derjenige, der sich getraute eine Taube anzufassen oder gar zu packen. Versuchte einer der Vögel auf ihnen zu landen, rannten sie schreiend davon. Es war eindeutig feststellbar, dass diese Jugendlichen wohl kaum Tierbegegnungen gewohnt waren. Die Tauben Venedigs waren für sie lediglich eine Möglichkeit, Coolness zu beweisen. Diese jungen Frauen und Männer zeigten sich den Tauben gegenüber aber nicht aggressiv.

Die Tauben haben sich selber dressiert, um an möglichst viel Futter zu kommen
Erstaunlich zu beobachten ist, wie zutraulich, hartnäckig und duldsam sich viele Tauben auf dem Markusplatz den Touristen gegenüber zeigen. Es kann einem schon die Frage durch den Kopf gehen, ob diese Vögel zum Kommerz dressiert worden sind. Doch Tauben sind äusserst lernfähig. Haben sie einmal ihre Scheu durch positive Erfahrungen verloren und gelernt, auf die Hand einer taubenfütternden Person zu sitzen, haben sie schnell Nachahmer. Die ranghöchsten, gut genährten Vögel haben den meisten Erfolg dabei. Sind sie einmal satt, kommen auch die noch hungrigen rangniederen Tauben ans Futter. Vom Hunger getrieben, wagen sie bald den Flug auf die Hand. Je mehr Erfolge die Tauben so erleben, desto findiger werden sie, um noch mehr ans Futter zu gelangen. Sie merken, dass ein Landen auf Kopf und Schulter, ein Anfliegen der Person belohnt wird. Die Tauben haben sich also selber dressiert.

In Venedig mischen sich übrigens auch Meeresmöwen unter die Tauben. Es wäre kaum verwunderlich, wenn diese im Lauf der Jahre durch Eigendressur ihre Scheu ablegen und mit zur Touristenattraktion auf dem Markusplatz beitragen. Die Vogelfutterverkäufer würde es freuen.