Lilly Langenegger sitzt am Esstisch der kleinen Küche ihres Appenzellerhauses in Gais AR und blättert in einem Fotoalbum. Vor ihr ein Früchteteller mit Trauben und Mini-Bananen, die sie so liebt. Die 74-Jährige hat zu jedem Bild eine Geschichte zu erzählen, kommt in einen regelrechten Redefluss. Ganz fertig wird sie aber nie mit einer Anekdote, immer wieder kommt ihr etwas noch Spannenderes in den Sinn. So nimmt sie ihr Gegenüber im Nu an die verschiedensten Schauplätze mit. 

Und dann steht Kater Felix vor ihr und fordert Streicheleinheiten. «Bei dem weiss man aber nie, ob er gleich zupackt», sagt sie und lacht. Felix bringt sie auch gleich auf das nächste Thema: Katzen. Das Ende der letzten Geschichte bleibt somit vorerst noch offen. Schnell steht sie auf und geht ins Wohnzimmer. Der Türrahmen ist niedrig, doch den Kopf muss sie beim Durchgehen nicht einziehen. «Die Stube ist ziemlich klein, aber es reicht.» 

Möglichst viel im Kopf behalten
Mit einem Griff hat sie ihr Buch in der Hand. «Tigerli kommt heim», heisst es, und es erinnert mit den detailverliebten Zeichnungen an ein Wimmelbuch. Viele der Situationen darin spielen draussen in der Natur. Auf Bauernhöfen, in Flussbetten, zwischen Kühen oder Ziegen und natürlich Katzen, auf der Weide, im Stall oder sogar in einem Altersheim. «Diese, diese und diese Katze da», Langenegger fährt mit dem Zeigefinger vorsichtig über eine der gezeichneten Katzen, als möchte sie sie streicheln, «die gab es wirklich. Die war immer so frech und sprang den Bewohnern in die Körbchen der Rollatoren.»

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  Bild: Lilly Langenegger, fotografiert von Adrian Baer

Drei Jahre lang arbeitete die gebürtige Zürcherin am Kinderbuch. Die Zeichnungen entstammen nicht ihrer Fantasie. Die Orte gibt es wirklich. Tagelang verweilte die Malerin an teils abgelegenen Orten, nur um die Umgebung und die Tiere möglichst genau in ihre Erinnerung aufzunehmen und zu skizzieren. 

Sie nimmt eine dieser schwarz-weissen Skizzen aus einer Zeichenmappe. Die Bäume sind grob angerissen. Rot, braun, grün, gelb. Jeder ist mit einer Farbe beschriftet. «So kann ich mich besser an die Farbtöne erinnern.» Nach Fotos zeichnet sie nämlich nur selten. Sie blättert weiter. «Hier lief ich jeden Tag den steilen Bergweg hoch. Mir gefiel die Aussicht so gut und die wollte ich einfangen für das Buch.» Einmal wurde es so spät – eine Häuserreihe im Dorf Stein brauchte viel Zeit zum Skizzieren –, dass die rüstige Seniorin kurzerhand in einem nahe gelegenen Gasthof übernachtete.

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  Bild: Lilly Langenegger, fotografiert von Adrian Baer

In Langeneggers Büchern spielen stets Tiere die Hauptrollen. Im ersten geht es um das Geisslein Flöckli, im zweiten um den kleinen Kater Tigerli und im dritten Buch um Bläss und Zita, zwei Appenzellerhunde. «Als ich klein war, mussten wir in Zürich dreizehn Mal umziehen. Ein Haustier konnte ich somit leider nie haben.» Sobald sich die damals stille und schüchterne Lilly jeweils etwas eingelebt hatte, mussten Mutter und Kinder wieder ihre Siebensachen packen. 

Bestechung für die Kühe
Umso mehr geniesst sie es heute, Tag für Tag zwischen Kühen, Hühnern und Katzen auf dem Bauernhof zu leben, den inzwischen ihr Sohn führt. «Apropos Kühe», sagt Langenegger und geht zurück in die Küche. Sie zeigt kichernd auf ein Bild, eine komplizierte Radierung mit im Stall liegenden Kühen, die alle in Richtung des Betrachters schauen. «Da habe ich etwas ganz Freches gemacht.» 

Die Kühe waren wenig interessiert an der Malerin. So holte sie Äpfel vom Garten und verteilte sie um sich herum. «So schauten die Tiere endlich zu mir», sagt sie und hält sich lachend die Hand vor den Mund. Da kommt ihr eine weitere «freche» Geschichte in den Sinn: «Ich male gerne Hühner», erzählt sie. Einmal beobachtete sie lange einen Hahn im Stall und versuchte, ihn zu zeichnen. «Irgendwann wurde ihm die Beobachterei zu blöde und er sprang mich plötzlich an. Da war es vorbei mit zeichnen.» Erneut lacht sie herzhaft los.

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  Bild: Lilly Langenegger, fotografiert von Adrian Baer

Im Appenzellerland kennt man Lilly Langenegger. Stellt sie ihre Werke irgendwo aus, schaut die Presse mit Sicherheit vorbei. «Ohne dass ich sie angefragt habe», das überrascht sie immer wieder. Mit dabei sind dann jeweils auch ihre Anhängerschaft und neue Fans, die auch heute noch hinzukommen. «Flöckli, das Geisslein» wurde bereits 50 000 Mal verkauft. Nebst der Bauernmalerei lernte Lilly Langenegger die Kunst der Radierungen. «Dafür besuchte ich einige Kurse. Für das Malen aber nicht.» Schon als Kind bastelte und zeichnete sie gerne. «Freunde hatte ich keine und für Hobbys fehlte das Geld.» Somit hatte Lilly viel Zeit für ihre grosse Leidenschaft. 

Früh schon wollte Langenegger mit Kindern arbeiten. Sie absolvierte die Ausbildung in einer Kinderkrippe und nahm eine Stelle in einem Kinderheim in Gais an. So lernte sie ihren Mann kennen und blieb dem Appenzell treu. Die beiden haben vier Kinder und bis heute neun Enkel, die bei Langenegger ein und aus gehen. «Die grossen können schon Autofahren und helfen mir immer beim Transport der Bilder», erzählt sie sichtlich stolz. 

Fabelwesen zur Entspannung
Beim Stichwort Bilder steht sie erneut auf, geht um den immer noch auf Streicheleinheiten wartenden Felix herum und steigt zwei Stockwerke nach oben. An den Wänden im Treppenhaus hängen ihre Bilder. Die Abstände sind immer die gleichen und nicht eines hängt auch nur ein kleines bisschen schräg. Einige der Bilder hier waren noch nie ausgestellt. 

Sie öffnet eine schwere Holztür im obersten Stock und tritt in den weitläufigen Raum. An der grossen Wand prangen ihre bekannten Rosenbilder. Ab und zu male sie die gerne. Und daneben fantasievolle Werke von Bäumen und Fabelwesen. «Die male ich nach anspruchsvollen Arbeiten, um mich und meine Hand zu entspannen.» Langenegger hat nämlich schon lange mit Arthrose zu kämpfen. 

Ob Bauernhof, Rose oder Zauberwald – in den Bildern von Lilly Langenegger kann man sich leicht verlieren, entdeckt immer wieder neue, winzige, aber sehr bewusst gemalte Details. Sie schaut auf die Uhr und steigt die Treppen genauso leichtfüssig wieder runter, wie sie vorhin hochgestiegen ist. Ein paar Sekunden später steht sie schon im hauseigenen Hofladen, den Sohn Walter mit seiner Frau führt. Eine Kundin sucht ihre Einkäufe zusammen. Frisches Gemüse, hofeigener Quark. Das Einkaufen ist unkompliziert und mit viel Glauben an das Gute. So wie Lilly Langenegger.