Für nüchterne Wissenschaftler waren es erstaunlich scharfe Worte: «Wir sind äusserst besorgt», «ich habe das so nicht erwartet», «ich bin betroffen und zum Teil auch wütend», erklärten die am Bericht «Zustand der Biodiversität Schweiz 2014» beteiligten Forscher am Dienstag an der Medienkonferenz im Zoo Zürich.

Erstmals haben 43 Experten aus 35 wissenschaftlichen Institutionen gemeinsam die biologische Vielfalt in der Schweiz untersucht. In den Bericht flossen landesweite Studien sowie regionale und kantonale Facharbeiten ein. Das Urteil ist deutlich: «Der Trend, dass die Biodiversität verloren geht, ist ungebrochen, und die Anstrengungen dagegen sind viel zu gering», sagte Markus Fischer, Professor an der Uni Bern und Präsident des Forums Biodiversität Schweiz, das den Bericht verfasst hat. Er wiederholte gleich mehrmals: «Wir sind sehr besorgt.»

Lange Liste von Verlusten
Die Wissenschaftler präsentieren eine lange Liste von Verlusten: Zerstörte Auen: 70 Prozent seit 1900. Durch Nährstoffe aus der Luft bedrohte Hochmoore: 100 Prozent. Anteil ökologisch wertvoller Flächen im Ackerland: unter 1 Prozent. Verlust einheimischer Felchenarten: 40 Prozent. Und so weiter.

«Offenbar ist hier eine Abwärtsspirale im Gange, so dass wir trotz vieler Bemühungen seit den 1980er Jahren nicht aus dem roten Bereich kommen», erklärte Stefan Eggenberg, Direktor der Pflanzenschutzstiftung Info Flora. Ein Drittel von 8000 in den 1990er Jahren kartierten Pflanzenbeständen sei heute nicht mehr auffindbar.

Der Bericht geht systematisch die Ökosysteme und ihre Belastungen durch: Gewässer (kaum mehr naturnah), Moore (entwässert und überdüngt), Agrarland (intensive Bewirtschaftung), Wald (zu dicht und überdüngt), Alpen (Klimawandel und Verbuschung), das Siedlungsgebiet (zu wenige naturnahe Flächen). Aber auch im Ausland verbraucht die Schweiz Flächen, etwa durch den Import von Tierfutter. Die Ursachen sind längst bekannt: Die Lebensräume von Organismen werden zu kleinen Inseln isoliert, verlieren an Qualität oder gehen ganz verloren.

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Grasfrösche sind in der Schweiz nicht gefährdet.
Bild: Beat Schaffner

Punktuelle Erfolge
Immerhin konnten die Forscher punktuelle Erfolge verbuchen: Auf wieder genutzten Wildheuwiesen steigt die Artenvielfalt in wenigen Jahren um 20 Prozent. In angemessen renaturierten Flüsse kann die Artenvielfalt steigen. Neu angelegte Laichplätze für Amphibien zeigen Wirkung.

Der Verzicht auf das Mähen von Wiesen verdoppelt die Zahl der Heuschrecken.  «Dies zeigt, dass Massnahmen etwas nützen, aber die bisherigen Anstrengungen viel zu gering sind», sagte Fischer. Dies sei nicht nur besorgniserregend für die Natur, sondern auch für den Menschen: «Wir reden hier von unserer Lebensgrundlage.»

Funktionierende Ökosysteme lieferten eine Reihe von Dienstleistungen, erklärte der Wissenschaftler: Sauberes Wasser, eine sichere Ernährung, natürliche Schädlingsbekämpfung, Schutz vor Naturkatastrophen, saubere Luft und attraktive Wohn- und Freizeitlandschaften. «Wir entnehmen einen grossen Teil unseres Trinkwassers direkt aus natürlichen Gewässern», sagte Florian Altermatt von der Wasserforschungsanstalt Eawag.

Aktionsplan umsetzen
Zumindest auf dem Papier hat die Politik auch schon reagiert: Der Bundesrat hatte 2012 die Strategie Biodiversität Schweiz (SBS) verabschiedet, die zehn strategische Ziele zum langfristigen Erhalt der Biodiversität definiert. Auch einen Aktionsplan, um diese zu erreichen, gibt es schon.

«Ich sehe im Aktionsplan eine grosse Chance», sagte Fischer. Ohne grosse zusätzliche Anstrengungen in allen Gesellschafts- und Politikbereichen seien diese Ziele nicht zu erreichen, warnt aber der Bericht. Die Experten schätzen, dass dazu die aktuelle Fläche wichtiger Lebensräume nur etwa doppelt so gross sein müsste.

«Es braucht nicht unbedingt viel Fläche, um zum Beispiel Waldränder vielfältiger zu gestalten», sagte Eggenberg. Ein Problem sei, dass der drastische Schwund an Vielfalt nicht sichtbar sei, denn auch artenarme Landschaften zeigen sich saftig grün: «Wir Wissenschaftler müssen immer wieder neue Zahlen liefern, um das sichtbar zu machen.»

Vielfalt schützen kostet. Doch ein Nichthandeln käme die Gesellschaft weit teurer zu stehen, heisst es im Bericht. Man wisse inzwischen genug, um zu handeln, sagte Altermatt. «Länger Warten ist aus Sicht der Wissenschaft nicht zu verantworten.»

Biologische Vielfalt in der Schweiz

Neben dem Menschen leben noch etwa 45'000 weitere Arten in der Schweiz – zu unserem Nutzen. Rund 100 dieser Arten kommen nur hier vor – sterben sie aus, sind sie weltweit unwiederbringlich verloren. Die Gendatenbank der Forschungsanstalt Agroscope enthält derzeit das Saatgut von 12'000 unterschiedlichen Nutzpflanzen wie Getreide, Gemüse und Futterpflanzen. Weiter gibt es zum Beispiel 200 Vogelarten, 600 Wildbienenarten, 3000 Pflanzenarten und rund 1000 Arten von Moosen. Die Vielfalt der Bodenlebewesen ist noch weitgehend unbekannt. Die Bedeutung der genetischen Vielfalt zeigt sich etwa am Beispiel der Kartoffel: Jeder genetische Typ hat andere Eigenschaften - wie fest- oder mehligkochend - und Lebensraumansprüche. Deshalb betrachten Wissenschaftler Biodiversität auch als eine Art Versicherung oder Backup-System, wie Daniela Pauli, Geschäftsleiterin des Forums Biodiversität Schweiz, erklärt. Forschende hätten plausibel dargelegt, dass unsere Wohlfahrt mit einer geringen Biodiversität nicht gewährleistet wäre, heisst es im neuen Bericht der Forschung zur Biodiversität in der Schweiz. (sda)