Punkt sechs Uhr geht der Wecker ab. Während ich mich schlaftrunken aus den Federn wälze, riecht es von unten schon nach Kaffee. Schon gestern Abend haben wir den anderthalbstündigen Weg zur Jagdhütte auf uns genommen. Sie liegt im Prättigau, oberhalb des Dorfes Seewis GR und gehört Kurt und Nina Gansner, einem Ehepaar, das sich leidenschaftlich der Jagd hingibt. Er ist Inhaber einer Naturfoto-Agentur und Chefredaktor der Zeitschrift «Schweizer Jäger», sie leitet den Verband der Waldeigentümer Graubünden und ist frisch gewählte Gemeindepräsidentin von Seewis.

Die Hütte hier oben ist spartanisch eingerichtet, eine Zuflucht für die beiden, vor der Arbeit, vor der Zivilisation. «Wenn ich einen Signalverstärker an die Fahnenstange montiere, habe ich manchmal Handyempfang», sagt Nina Gansner, während sie Kaffee einschenkt. Das komme aber selten vor. Hier oben wird nicht gearbeitet.

Hier oben wird gejagt. Heute geht es auf das Birkhuhn. Oder besser gesagt: den Birkhahn, denn nur der Hahn dieser Hühnervögel darf abgeschossen werden – und schon das ist umstritten genug.

Vor der Tür ist noch stockdunkle Nacht an diesem kalten Novembertag. «Im Morgengrauen balzen die Hähne», sagt Kurt Gansner, «später sind sie kaum noch zu erwischen.» Also müssen wir ihren Balzplatz erreichen, bevor die Sonne von Österreich her über den Berggrat linst. Die Stirnlampen werden montiert, ihr Schein zeigt nur dürftig, wie die schweren Schuhe im matschigen Gras versinken. Sofort geht es steil bergan, den Oberschenkeln wird keine Eingewöhnungszeit gewährt.

Jagd auf ein Rote-Liste-Tier
Die Gansners, den Holzstock in der Hand und die Schrotflinte umgehängt, sind flott unterwegs, sie kennen hier jeden Wildwechsel, jeden umgestürzten Baumstamm. Sie kennen auch den beliebtesten Balzplatz der Birkhähne. Kurt Gansner zeigt schräg nach oben, quer übers Tal, auf den gegenüberliegenden Berghang, auf eine unscheinbare, ebene Grasfläche. «Dort waren sie früher immer. Aber momentan wird gebaut, das hat sie vertrieben.»

Deshalb können wir uns heute nicht einfach am Balzplatz postieren und warten, bis die Birkhähne auftauchen. Bis zu einem Dutzend von ihnen können sich in solch einer Arena zeigen. Sie spreizen dann die Flügel, Nicken mit dem Kopf, stampfen mit den Füssen und setzen mit kullernden Tönen zum Balzgesang an. Was wir hingegen hören, ist erstmal nur der Raufusskauz, der Nachtwächter des Bergwalds, der unser Erscheinen mit seinem Warnruf ankündigt.

Auf unserem Anstieg sehen die Gansners Spuren, die meinem Auge auch bei Tageslicht entgehen würden. Sie reden von Rotwild, Gamswild, Birkwild – das Wörtchen «Wild», tief verankert in der Jägersprache, hat eine intensive Wirkung auf mich. Es schafft Distanz, lässt aus einem Tier – so fühlt sich das für mich an – ein Ding werden, das abzuschiessen moralisch in Ordnung ist. Gerade beim Birkhahn gibt es viele Stimmen, die sich ein Abschussverbot wünschen. Immerhin steht der Vogel auf der schweizerischen Roten Liste der bedrohten Tiere, gilt dort als «potenziell gefährdet». Und doch darf er gejagt werden. Für den Schweizer Tierschutz (STS) ist seine Bejagung «strikte abzulehnen» und auch Werner Müller, Geschäftsführer von BirdLife Schweiz, sagt: «Die Jagd auf den Birkhahn ist nicht zeitgemäss und zu stoppen.»

Kurt Gansner ist sich der Kontroverse bewusst. Für ihn liegt das Problem aber anderswo: Wanderer und Touristen seien es, die den Lebensraum des Birkhahns stören, oder gar – wie das Beispiel der Bauarbeiten beim Balzplatz zeigt – zerstören. Die Jagd falle da kaum ins Gewicht. Vogelschützer Werner Müller bestätigt: «Der Birkhuhnbestand leidet unter dem ausufernden Erholungsbetrieb.» Er lässt die Jäger allerdings nicht vom Haken: «Durch die Jagd werden die Birkhühner scheuer, dadurch vergrössern sich die Auswirkungen von Störungen.»

Eine Trophäe reicht den meisten
Obwohl wir die Birkhühner hier im Prättigau möglicherweise stören, geht es ihnen nachweislich besser als auch schon. Laut der Schweizerischen Vogelwarte hat sich ihr Bestand seit 2000 um rund 30 Prozent vergrössert, schweizweit soll es heute bis zu 10 000 Paare geben. Und auch der Jagddruck auf sie lässt deutlich nach, wie die eidgenössische Jagdstatistik zeigt: Wurden bis in die 90er-Jahre jährlich noch mehr als 1000 Tiere geschossen, waren es 2016 noch 400.

Im Trend liegt die Birkhuhnjagd also nicht gerade. Kurt Gansner erklärt: «Viele Jäger wollen einmal in ihrem Leben einen Birkhahn erlegen. Danach lassen es die meisten bleiben.» Präpariert geben die Vögel eine imposante Trophäe ab, ein Erinnerungsstück für die Stube, wie auch bei Gansners zu Hause eins steht: zwei Hähne bei der Balz. Auch heute wären die beiden wohl nicht auf Birkhuhnjagd, hätte nicht ich, der Journalist, darum gebeten. Ein schlechtes Gewissen überfällt mich und ich hoffe insgeheim, dass die Birkhähne heute ungeschoren davonkommen.

Die Stirnlampe brauchen wir inzwischen nicht mehr, frostig kalt ist es aber immer noch. Hier oben hat sich der letzte Oktoberschnee noch fleckenweise gehalten. Auf einer Kuppe treffen uns die ersten Sonnenstrahlen und prompt hört Kurt Gansner etwas. Er hält den Finger vor den Mund, wir schweigen und hören das Kullern auch. Hinter der nächsten Kuppe muss der Hahn sein. Wir teilen uns auf; Nina Gansner und ich bewegen uns auf eine Baumgruppe zu, Kurt will den Vogel zu uns treiben.

Auf gut Glück schiessen bringt nichts
Nach einer Viertelstunde gibt er auf. «Er war wohl doch weiter weg.» Wir marschieren weiter, dem nun sonnenbeschienenen Grat entlang. Eisige Stellen lassen mich mehr als einmal den Halt verlieren. Ich muss mich so sehr auf den Boden unter meinen Füssen konzentrieren, dass ich nicht auch noch Ausschau nach Birkhähnen halten kann. Gansners haben da weniger Mühe, aber sie finden auch nichts. «Komisch», sagt Kurt, «sonst sieht man hier immer welche.»

Als er um die nächste Ecke biegt, raunt uns Kurt Gansner zu: «Da ist ein anderer.» Und tatsächlich, da sitzt ein älterer Jäger unterm Baum und trinkt Thermoskannenkaffee. Vielleicht ist er der Grund, weshalb wir bisher keine Birkhähne zu Gesicht bekommen haben. Höflich grüsst man sich und tauscht ein paar Sätze aus. Der grauhaarige Jäger ist schon seit vielen Jahren auf der Suche nach seinem ersten Birkhahn. Zum Schuss kam er allerdings noch nie – ausser heute, erzählt er, habe er es versucht, habe die Schrotflinte abgefeuert, aber «er ist einfach zu weit weg gewesen».

Kurt Gansner weiss um die Schwierigkeiten bei der Birkhahnjagd. Zu denen, die auf gut Glück schiessen, zu denen will er nicht gehören. «Du musst schon auf zwanzig Meter herankommen, sonst verletzt du das Tier mit der Schrotflinte höchstens.» Das soll uns im Laufe dieses Vormittags nicht mehr gelingen. Immerhin zu Gesicht bekommen wir noch ein paar Birkhähne. Ein paar hundert Meter weiter vorne im Tal sitzen sie, jeder auf dem Wipfel einer anderen Fichte. Beim Abstieg kommen wir einem noch näher. Aber als Gansner die Schrotflinte in die Hände nimmt und zum Schleichschritt ansetzt, bemerkt der Hahn ihn von seiner hohen Warte aus und fliegt ab.