Er ist der Chef im Quartier. Der Amselmann mit dem weissen Federfleck im Nacken – deshalb ist er stets leicht zu erkennen – hatte diesen Frühling zwar, wie es scheint, keinen Erfolg bei den Weibchen, aber immerhin gab es über den Winter auf dem Balkon des Journalisten stets genügend Körner für ihn zu fressen und die Aussicht von der hohen Warte machte ihm bis Mitte Juni auch niemand streitig.

Dann kam der andere. Ein zweiter Amselmann erfrechte sich, ihm sein Revier streitig zu machen. Mit besorgten Blicken sah sich der Journalist im Homeoffice an, wie sich die beiden Vögel auf dem Balkongeländer laut schimpfend näher und näher kamen. Gewalt lag in der Luft. Aber zum richtigen Knall kam es nie.

Der heimische Amselmann machte sich gross, spreizte die Flügel, der andere machte es ihm nach. Dann ein Satz nach vorne, ein Scheinangriff, doch der reichte. Der Eindringling nahm einen Satz rückwärts, zagte noch einmal kurz nach vorne, machte dann aber kehrt und flog davon.

Die Szene sollte sich an diesem Tag noch ein, zweimal wiederholen, doch das Resultat blieb dasselbe: Der einheimische Amselmann vertrieb den Emporkömmling, der sich fortan nicht mehr blicken liess. Der Kampf ums Revier war gewonnen – ohne, dass es je einen Kampf gab.

 

Ritualisierte Kämpfe von Rothirschen

[IMG 2]

Trainingskämpfe reichen
Konflikte sind im Tierreich allgegenwärtig. Und meist lassen sie sich mehr oder weniger friedlich lösen, mit Gesten, Geprahle und grossen Tönen. Treffen zwei Männchen derselben Art aufeinander, geht es oft um die Liebe. Wer Chef im Revier ist, kriegt die Weibchen oft gratis dazu. Die Rothirsche etwa geben gute Beispiele ab für territoriale Konflikte, die nur selten gänzlich eskalieren. Zwar kommt es zwischen Hirschen, wenn alles Röhren, Scharren und Stolzieren nichts nützt, durchaus zu Kämpfen, aber die laufen nach festen Spielregeln ab. Die Hirschgeweihe schützen die Tiere meist vor grösseren Verletzungen, ein Kampf dauert nur, bis klar ist, wer stärker ist. Der unterlegene Hirsch trottet davon, er hat zwar das Territorium verloren, aber sein Leben darf er behalten. Diese ritualisierten Kämpfe um Reviere oder um die Gunst von Weibchen sind im Tierreich allgegenwärtig. «Sparring» nennen es Wissenschaftler auf Englisch, so werden auch Trainingskämpfe unter Boxern genannt, die sich auf keinen Fall verletzen wollen. Für eine Studie haben Forscher in Alaska rund 1300 Kämpfe zwischen Rentiermännchen untersucht. Nur ganze sechs davon gingen blutig aus.

 

Balztanz der Kraniche

[IMG 3]

Drohgesten und Imponiergehabe erfüllen bei vielen Tieren gleich zwei Funktionen auf einmal: Zum einen sollen sie Konkurrenten einschüchtern, zum anderen Weibchen verzücken. Das ist in der Vogelwelt oft sehr ausgeprägt zu sehen, etwa beim Balztanz der Kraniche oder der Birkhähne. Was aussieht wie Tänze, sind eigentlich durchorchestrierte Schaukämpfe, gepaart mit Imponiergehabe. Die Vögel spreizen ihre Flügel, springen in die Luft, um gross und stark zu wirken, drehen und präsentieren sich von allen Seiten. Ein Spiel nach ganz klar definierten Regeln, fast ohne Risiko.

Fauchen und Knurren versteht jeder
Nicht immer geht es allerdings um die Liebe und nicht immer ist schon im Voraus klar, dass ein Konflikt zwischen Tieren friedlich endet. In der Savanne stehen sich etwa tagtäglich Löwen und Hyänen gegenüber, die sich um frisch erlegte Beute streiten. Und das sind zwei der tödlichsten Jäger im Tierreich, mit denen nun wirklich nicht zu spassen ist, mit ein bisschen Aufplustern und Rumhüpfen kommt hier keiner weit. Da wird geknurrt, gefaucht, zum Scheinangriff angesetzt.

Aber wirklich blutig wird es auch hier nur selten. Meist lässt sich eine Partei genügend fest einschüchtern, dass sie von der Beute ablässt und von dannen zieht. Konflikte unter Tieren sind nämlich auch ein stetiges Pokerspiel. Ein Abwägen: Was gibt es zu gewinnen, was zu verlieren? Und weil das Leben ein verdammt hoher Preis ist, den es bei einer Niederlage zu bezahlen gilt, vermeidendie allermeisten Tiere Kämpfe auf Lebenund Tod.

Zwei sich anmaunzende Kater

[IMG 4]

Und so haben sich quer durch das Tierreich Strategien etabliert, die signalisieren: «Ich bin stark, du solltest nicht gegen mich antreten!» Zuallervorderst steht da das Sich-Grossmachen. Vögel plustern sich auf, Katzen sträuben das Fell und machen einen Buckel, sogar wir Menschen stemmen unsere Hände in die Hüften und lassen uns breiter wirken. Und wenn wir mit den Fingerknöcheln knacken oder unseren Bizeps zeigen, machen wir praktisch dasselbe wie die Gazelle, die mit Luftsprüngen zeigt, wie fit sie ist und dass sich ein Angriff auf sie gar nicht erst lohnt.

Wirksame Drohgesten sind oft auch laute Töne: das Fauchen von Katzen, das Knurren von Hunden, das Zischen von Schlangen, oder das Kreischen von Vögeln. Der Gorilla trommelt sich mit den Fäusten auf die Brust und brüllt dabei lauthals – diese Sprache versteht wohl jeder.

Diese Echse droht mit «Liegestützen»

[IMG 5]

Neben Grösse und Lautstärke sind Zähne und Blicke weitere wirksame Werkzeuge, um Stärke zu zeigen und Gegner einzuschüchtern. Was das Zähnezeigen bewirkt, muss kaum erklärt werden. Drohstarren nennt sich ein Phänomen, das ebenfalls fast über alle Arten hinweg verstanden wird. Spannend ist, wie Hunde ihre Blicke auf unterschiedliche Weise einsetzen: Wollen sie einem Artgenossen nur imponieren, vermeiden sie einen direkten Blickkontakt; fixieren sie den Gegner, sind sie bereit zum Kampf. Deshalb ist es nicht die beste Idee, einem knurrenden Hund in die Augen zu schauen; er geht bei uns vom gleichen Verhalten aus, das auch er anwendet.

Während Konflikte zwischen Artgenossen in aller Regel glimpflich ausgehen, reichen Drohgebärden und Warnsignale zwischen Vertretern unterschiedlicher Spezies nicht immer aus, um klarzustellen, wer stärker ist und wer bei einem Kampf den Kürzeren ziehen würde. Katze und Hund beispielsweise sprechen einfach eine andere Sprache. Wedelt der Hund mit dem Schwanz, heisst das etwas ganz anderes, als wenn die Katze ihren Schwanz bewegt.

Fuchs beisst Katze in den Schwanz

[IMG 6]

Komplizierte Gruppendynamik
Komplexer wird es zuweilen aber auch unter Artgenossen. Dann nämlich, wenn es nicht um ein Eins-gegen-Eins-Duell geht, sondern sich etwa zwei Wolfsrudel oder zwei Erdmännchen-Familien gegenüberstehen. Forschende gingen bislang – vermutlich der Einfachheit halber – stets davon aus, dass die grössere Gruppe gewinnt und die kleinere zu vertreiben vermag.

Eine neue Studie hat nun jedoch gezeigt, dass das viel zu kurz greift. Es seien eine ganze Reihe von Faktoren, die von einer Tiergruppe berücksichtigt werden müssen, um abzuschätzen, ob sich ein Kampf lohnt. So sei etwa ein kleines Wolfsrudel mit vielen Männchen durchaus in der Lage, ein grosses Rudel voller Weibchen zu vertreiben. Sind jedoch Jungtiere mit im Spiel, sind die Muttertiere deutlich risikobereiter und lassen sich nicht so schnell verscheuchen. Dasselbe gilt in Hungerszeiten: Winkt dringend benötigte Nahrung als Belohnung, riskieren hungrige Tiere deutlich mehr als gut genährte.