Das Paradies ist nicht weit von der russischen Grenze entfernt. Lassi Rautiainen kennt es ganz genau. Seit fast 40 Jahren liegt der Naturfotograf hier auf der Lauer. Er hat dem Sumpfstreifen im nordischen Niemandsland seinen himmlischen Namen verpasst. Im frostigen Garten Eden hat er Bartkäuze im Schneegestöber fotografiert, tanzende Kraniche und balzende Birkhähne.

«Für Naturfotografen gibt es einfach keinen schöneren Ort», sagt der 59-Jährige über die Region rund um das Städtchen Kuhmo in der finnischen Taiga, wie diese Landschaft aus Sümpfen und Nadelwäldern heisst. An diesem klirrend kalten Nachmittag baut er wie schon Tausende Male zuvor seine Kamera in einem Unterschlupf auf und schiebt das schwere Teleobjektiv durch einen tarnfarbig gefleckten Plastikvorhang. Lautlos sitzt er in seinem Versteck, kontrolliert immer wieder mit dem Fernglas den Waldrand. Rautiainen ist ein Jäger nach dem perfekten Augenblick, dem perfekten Licht, dem perfekten Tierfoto.

Aus dem Paradies stammt Rautiainens berühmteste Fotoserie. Die spektakulären Bilder eines jungen Bären und einer Wölfin, die gemeinsam durch die Taiga streifen und sich sogar ihre Beute teilen, erregten 2013 weltweite Aufmerksamkeit. Medien von den Vereinigten Staaten bis China berichteten über die ungewöhnliche Freundschaft von «Romeo und Julia», die doch eigentlich Todfeinde sein müssten.

Die Bären an den Menschen gewöhnt
Im Paradies gilt das Gebot der absoluten Stille. Schweigen gehört für Rautiainen zum Beruf. Auch aus dem nächstgelegenen Fotoversteck ist kein Wort zu hören. Nur einen Elchsprung entfernt halten zwei Journalisten aus Helsinki ihre Objektive gezückt. Sie hoffen auf eine Begegnung zwischen Bär und Wolf. Und vielleicht lässt sich ja sogar ein Vielfrass blicken. Nirgendwo stehen die Chancen besser, den seltenen Riesenmarder aufzuspüren.

Im Sumpfland ringsum bricht langsam die Dämmerung herein. Es herrscht Stille. Nur aus der Ferne ist das helle Trompeten der Singschwäne zu vernehmen. Ein Seeadler späht von einem Baumwipfel aus nach Beute. Eine Gruppe Kolkraben balgt sich krächzend um den Schweinekadaver, den der Fotograf als Lockmittel an einen Baumstamm gebunden hat.

«Mein erstes Bärenfoto habe ich 1979 noch in Schwarz-Weiss geschossen», erzählt Rautiainen. «Das war etwas Unglaubliches. Die meisten Finnen hatten damals noch nie einen Braunbären in freier Wildbahn gesehen. Danach wollte ich immer mehr Bilder.» So begann Lassi Rautiainen in den Wäldern von Kuhmo entlang der russischen Grenze Fotoverstecke aufzubauen. Mit Schlachtabfällen lockte er die Bären vor die Kamera und gewöhnte den instinktiv scheuen Meister Petz über Jahrzehnte an den Geruch des Menschen.

Mit der Zeit erhielt Rautiainen immer mehr Anfragen von Naturfreunden, die in der Taiga Wildtiere beobachten wollten. «Ich hatte eigentlich nie vor, Touren für Touristen anzubieten», sagt er. «Es hat sich alles einfach so ergeben.» Inzwischen haben Gäste aus mehr als 30 Ländern den Finnen in eines seiner mittlerweile elf Fotoverstecke begleitet. Und es werden immer mehr.

Die illegale Jagd hört nicht auf
Urplötzlich hält Lassi Rautiainen inne und schwenkt das Objektiv nach rechts. Beinahe lautlos ist am Waldrand ein mächtiger Braunbär aufgetaucht. Misstrauisch wirft er einen Blick in Richtung der Fotoverstecke. Er muss längst auch das Klicken der Kameras gehört haben. Neugierig reckt er die Schnauze. Womöglich ist der Duft von Schweinelenden in der Nase dann doch stärker als seine Angst vor dem Menschenvolk. Schnurstracks steuert er auf den Kadaver zu, macht sich über das Aas her und reisst mit seinen spitzen Zähnen einen gewaltigen Brocken aus der Seite. Flugs verschwindet er damit in der Dämmerung.

«Braunbären müssen den Menschen nach wie vor fürchten», erklärt Rautiainen. Noch immer werden in Finnland jedes Jahr zwischen 80 und 130 Tiere gejagt. Legal, auch wenn die Gesamtzahl der Tiere auf weniger als 2000 Tiere geschätzt wird. Von den 150 bis 200 Wölfen, die noch durch die finnische Taiga streifen, wurden im letzten Jahr 47 geschossen, obwohl die Wolfsjagd gegen EU-Naturschutzrecht verstösst.

«Die illegale Jagd hört nicht auf», sagt Rautiainen. «Noch immer warnen Jäger und Holzfäller vor der Gefahr durch die Tiere.» Einige halten den Naturtourismus für eine Bedrohung. «Sie glauben, ich bin gefährlich, weil ich mich für die Raubtiere einsetze. Dabei haben sie Angst vor etwas, das sie nicht kennen. Nie hat hier ein Bär oder ein Wolf einen Menschen angegriffen.» Rautiainen sieht die Tiere vielmehr als Bereicherung für die ganze Region. «Ein lebender Wolf oder Bär ist viel mehr wert, als ein toter.»

Mitten im Wald hat Rautiainen ein weiteres Fotoversteck aufgebaut, das gerne von Vielfrassen besucht wird. Hier liegen an diesem Abend ein norwegischer Naturfotograf und eine Gruppe Italiener auf der Lauer. Sie sind allein deshalb gekommen, um die seltenen Marder in der Natur zu beobachten. «Bären und Wölfe haben wir auch bei uns», sagt ein Mailänder, «aber einen Vielfrass in freier Natur konnten bisher nur sehr wenige Menschen sehen.»

Als es langsam dämmrig wird im Wald, setzt leichtes Schneegestöber ein. Es hat bald die Schweinehälfte zugedeckt, die Rautiainen für den Liebling der Naturfotografen ausgelegt hat. Zusätzlich hat er an einen Kiefernstamm Lachsstücke genagelt. Denen kann der Vielfrass kaum widerstehen.

«Seinen Namen hat der Vielfrass wohl von seiner Angewohnheit, für den Winter üppige Vorräte anzulegen», erklärt Rautiainen. Auch hier hat das dachsgrosse Tier bedrohlich klingende Namen: Im Finnischen heisst es einfach «Fresser», im Russischen «Fetter Bauch».

Als der Nimmersatt dann tatsächlich vor der Fotohütte auftaucht und sich über die Lachsstücke hermacht, ist die Überraschung gross. Von wegen bedrohlich! Der Räuber hat ein Teddybären-Gesicht mit dunklen Knopfaugen. Mit seinem flauschigen, kastanienbraunen Fell ist er in der Dunkelheit bestens getarnt und gleichzeitig für die Eiseskälte des Polarwinters gerüstet.

Der Luchs fehlt noch als Fotomotiv
Am Morgen sind die Fährten des nächtlichen Besuchers im Neuschnee versunken. In einiger Entfernung findet Rautiainen dafür die Spuren eines anderen scheuen Räubers. Ein Luchs hat sich offenbar an einen Auerhahn herangeschlichen. «Er ist einfach zu schlau, um uns Fotografen vor die Linse zu laufen», sagt Lassi Rautiainen. «Zwar wissen wir durch seine Spuren, dass es ihn gibt, aber noch nie habe ich hier einen Luchs zu Gesicht bekommen.»

Selbst für den Profi gibt es in der Taiga von Kuhmo also noch eine Menge zu entdecken. Aber irgendwann wird er sicher auch den heimlichsten aller Waldbewohner mit der Kamera erwischen. Vielleicht sogar im perfekten Licht.

Anreise und Unterkunft
Direktflug von Zürich oder Genf nach Helsinki. Von dort fliegt Finnair weiter nach Kajaani. Bis ins Revier des Vielfrasses an der russischen Grenze sind es noch zwei Stunden mit dem Leihwagen. Naturfotografen und Tierfreunde können sich in Lassi Rautiainens Holzfällerhütte an einem Waldsee bei Kuhmo einquartieren.
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