Wer hat nicht schon einmal Muscheln am Strand gesammelt und sich gefreut an ihren prächtigen Formen, Farben und Mustern? Doch eigentlich ist es gar nicht nötig, ans Meer zu fahren, um schöne Schalen von Weichtieren zu finden. Das merkt, wer mit der Schneckenspezialistin Cristina Boschi unterwegs ist.

Es ist ein milder Aprilmorgen. Wir stehen auf einer feuchten Wiese in einer kleinen Senke irgendwo bei Gränichen im Kanton Aargau. Wie ein Keil schneidet sich das Grasland in ein Waldstück hinein – Sonne ist hier Mangelware, dafür plätschert ein paar Schritte weiter ein kleines Bächlein. 

«Das sind gute Bedingungen für viele Schneckenarten», sagt die 42-jährige Zoologin und beugt sich über einen morschen Ast, der im Gras liegt. Und tatsächlich: Es geht nicht lange, da wird sie fündig. Eine ziemlich grosse kastanienbraune Häuschenschnecke mit feinen, hellen Flecken. Es ist die Gefleckte Schnirkelschnecke (Arianta arbustorum), neben der Weinbergschnecke und der Garten- und Hainbänderschnecke eine der häufigsten Häuschenschneckenarten der Schweiz. «Sie kommt ab und zu auch in buschreichen Gärten vor», sagt Boschi. «Aber sie braucht immer feucht und wenig Sonne.» Je länger wir ins nasse Gras schauen, desto mehr Schnirkelschnecken tauchen dort auf – in allen Grössen, von stecknadel- bis einfränklergross. «Jetzt im Frühling sind auch viele Jungtiere unterwegs», erklärt Boschi.

Ruhepausen in der Trockenzeit 
Dass Schnecken lieber nass als trocken haben, ist jedem Hausbesitzer bewusst, der nach einer Regennacht durch seinen Garten geht. Als Weichtiere müssen sie stets auf der Hut sein, dass ihrem Körper nicht zu viel Feuchtigkeit entzogen wird. Wird es zu warm oder zu trocken, begeben sie sich in eine Art Trockenschlaf. Nacktschnecken etwa ziehen sich an feuchte Stellen zurück – zum Beispiel unter ein Brett, das im Garten herumliegt – oder vergraben sich gar im Boden. Häuschenschnecken verlassen sich mehr auf die schützende Wirkung ihrer Schale, die sie mit mindestens einer Schleimschicht verschliessen.

Allerdings sind nicht alle Schnecken gleich empfindlich auf Trockenheit. Cristina Boschi hat inzwischen zwei kleine Schnecken entdeckt, deren zartes Gehäuse bernsteinfarbig schimmert. Es handelt sich um die Gemeine Bernsteinschnecke (Succinea putris) und um die Kleine Bernsteinschnecke (Succinella oblonga). «Die erste ist eine richtige Feuchtgebiets-Art», sagt die Zoologin. «Die zweite hingegen ist flexibler und kommt durchaus auch in Trockenwiesen vor.»

Insgesamt 254 Schneckenarten gibt es in der Schweiz. Nur gerade vier davon, vier Nacktschneckenarten, können im Gemüsegarten grössere Schäden anrichten. Denn die grosse Mehrheit aller Schneckenarten ernähre sich lieber von welken, vermodernden Pflanzenteilen oder von Pilzen und Algen, sagt Boschi. Sie muss es wissen. Schliesslich hat sie vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben, in dem jede Schweizer Schnecke einzeln vorgestellt wird. Dabei, sagt Boschi, sei sie eher durch Zufall auf die Kriechtiere gekommen. Denn eigentlich ist sie Wildtierbiologin mit einem eigenen Beratungsbüro, beschäftigt sich also eher mit Säugetieren wie Rehen, Dachsen, Füchsen oder (als Geschäftsführerin der Stiftung WIN Wieselnetz) mit Mauswiesel und Hermelin.

<drupal-entity data-embed-button="media" data-entity-embed-display="view_mode:media.teaser_big" data-entity-embed-display-settings="[]" data-entity-type="media" data-entity-uuid="313292f9-40a2-4d90-89ac-384cfa645d78" data-langcode="de"></drupal-entity>
Cristina Boschi auf der Suche nach Schnecken.
Bild: Simon Koechlin

Haare auf der Schale
Als sie in ihrer Doktorarbeit aber der Frage nachging, welchen Einfluss eine extensive  Weidewirtschaft auf die Artenvielfalt in den Wiesen hat, brauchte sie die Schnecken als Indikatoren für die Biodiversität. «Ich benötigte fast ein Jahr, um mich einzuarbeiten», erzählt Boschi. Am Anfang sei es schwierig, die verschiedenen Schneckenarten auseinanderzuhalten. «Erst mit der Zeit bekommt man ein Auge für die verschiedenen Merkmale der Gehäuse.»

Aber wenn man das Auge einmal hat, dann hat man es, so scheint es: Wieder ist Cristina Boschi fündig geworden. Mit einer biegsamen Pinzette nimmt sie vorsichtig eine Schnecke auf, deren flaches Gehäuse über und über mit relativ dicken, kurzen Haaren besetzt ist. Ohne zu zögern sagt sie: «Das ist die Zottige Haarschnecke (Trochulus villosus).» Und kurz darauf findet sie eine weitere behaarte Schnecke, etwas kleiner diesmal. Es handelt sich um die Maskenschnecke (Isognomostoma isognomostomos). Wozu die Haare dieser Schnecken dienten, sei nicht gut untersucht, erklärt Boschi. Eine Hypothese sei, dass sie das Gehäuse schützten, wenn sie auf einen harten Untergrund falle. 

Wobei Schnecken so oder so hart im Nehmen sind. Selbst ein teilweise kaputtes Gehäuse ist noch kein Todesurteil für die Tiere. Man habe schon Schnecken gefunden, die einen neuen Ausgang aus ihrem Gehäuse gebildet hätten, weil der ursprüngliche ramponiert war, erzählt Boschi. Besonders oft finde man beschädigte und reparierte Gehäuse bei Weinbergschnecken. Der wahrscheinliche Gund: Diese grösste einheimische Schneckenart kann über zehn Jahre alt werden – da geht halt ab und zu etwas in die Brüche.

Auch Schnecken haben Könige
Das Schneckenhäuschen besteht aus zwei Schichten. Die untere enthält hauptsächlich Kalk und kann von der Schnecke zeitlebens erneuert werden. Die obere dagegen, die auch die Färbung der unteren Schicht stark hervorhebt, enthält gegerbtes Eiweiss. 

Eine Wissenschaft für sich ist die Windungsrichtung der Schneckenschale: Grundsätzlich ist sie für jede Art ein spezifisches Merkmal. «Die meisten einheimischen Landschneckenarten haben ein rechts gewundenes Gehäuse», sagt Boschi. Das heisst: Das Gehäuse geht im Uhrzeigersinn von innen nach aussen. Individuen, deren Gehäusewindung der artspezifischen zuwiderläuft, sind sehr selten. Bei der Weinbergschnecke schätze man, dass nur etwa eines von 200 000 bis einer Million Exemplaren linksgewunden sei, sagt Boschi. Solche Tiere bezeichnet der Volksmund als «Schneckenkönige».

Bei der nächsten Schnecke, auf die wir stossen, sind jedoch linksherum gedrehte Schneckenhäuschen die Regel. Es ist eine kleine Schnecke mit einem hohen, spindelförmigen Gehäuse. Bei diesen Schliessmundschnecken (Clausiliidae) vermag selbst die Spezialistin nicht auf den ersten Blick zu sagen, um welche Art es sich handelt. Zu ähnlich sind die etwa ein Dutzend Arten dieser Familie, die in der Nordschweiz vorkommen.

Ihr hohes, schmales Gehäuse erlaubt es Schliessmundschnecken, sich selbst in winzigsten Ritzen im Gestein oder in Baumrinde zu verstecken. Als wir ein paar Schritte in den Wald machen und dort einige Holzstapel absuchen, wimmelt es nur so von solchen spindelförmigen Schneckenhäuschen. Als dann noch die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume dringen, fühle ich mich beinahe wie an einem Muschelstrand.

<drupal-entity data-embed-button="media" data-entity-embed-display="view_mode:media.teaser_big" data-entity-embed-display-settings="[]" data-entity-type="media" data-entity-uuid="b828ecfe-bb86-4003-95d5-079f16a987da" data-langcode="de"></drupal-entity>Cristina Boschi, Markus Kappeler (Mitarbeit),
Karl Tanner (Mitarbeit): «Die Schneckenfauna
der Schweiz», gebunden, 624 Seiten,
Haupt-Verlag, ISBN: 978-3-258-07697-3,
ca. Fr. 98.–.