Kleidungsstücke, die aus seltenen tierischen Materialien angefertigt wurden, können richtig teuer sein. Für einen Pullover aus der Wolle eines südamerikanischen Vikunjas muss man bis zu 5000 Franken hinblättern. Das teuerste T-Shirt der Welt, gefertigt aus Krokodilleder, kostet schon rund 90 000 Franken. Und einen Pelzmantel aus reinem Zobel, einer asiatischen Marderart, gibt es gar erst ab 250 000 Franken. Aber es geht noch exklusiver! Wie wäre es mit einem goldenen Cape, einem ärmellosen Umhang, hergestellt aus den Spinnfäden einer Seidenspinne?

Ein solches Kleidungsstück gibt es tatsächlich – hergestellt vom englischen Künstler Simon Peers und dem amerikanischen Modedesigner Nicholas Godley, die beide auf Madagaskar leben. Die Fasern für diese Exklusivität gewannen die beiden aus der Madagaskar-Seidenspinne, mit wissenschaftlichem Namen Nephila inaurata madagascariensis, einer der grössten Spinnen der Welt. Die Weibchen sind, Beine eingeschlossen, etwa so gross wie eine menschliche Hand; die Männchen allerdings deutlich kleiner.

Eine Madagskar-Seidenspinne bei der Arbeit (Video: DJ's Nature Planet):

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Eine Melkmaschine für Spinnen
Wir Menschen brauchen uns vor der Madagaskar-Seidenspinne nicht zu fürchten. Sie injiziert ihren Opfern zwar, wie die meisten anderen Spinnen auch, ein Nervengift, um sie bewegungsunfähig zu machen und zu töten. Für Säugetiere ist das Gift aber harmlos. Zudem gelten Madagaskar-Seidenspinnen als wenig aggressiv, ja im Vergleich zu anderen Spinnenarten geradezu als friedfertig. 

Mit einem Durchmesser von bis zu zwei Metern sind die Netze der Madagaskar-Seidenspinne riesig. Und ihre Spinnfäden gehören zu den stärksten und belastbarsten überhaupt: Sie ertragen vier Mal schwerere Lasten als Stahl, sind gleichzeitig aber dehnbarer als Nylon. Dazu sind sie bis 250 Grad Celsius hitzestabil, wasserfest, haben antibakterielle Eigenschaften und sind natürlich biologisch abbaubar. Ein echtes High-Tech-Material also.

Madagaskar-Seidenspinnen sind auf Madagaskar häufig: Im Hochland spinnen sie oft sogar Netz an Netz. Eine Tatsache, die den beiden Seidenkünstlern natürlich entgegenkam. Sozusagen als Probelauf fabrizierten sie im Jahr 2004 einen Schal aus Spinnenseide. Danach ging es an die Herstellung des vier mal zwei Meter grossen Capes – ein Unterfangen, bei dem sie auf 80 Helfer zählen konnten und das fünf Jahre in Anspruch nahm. 

So melkt man eine Seidenspinne – im Video die Art Nephila edulis (Video: OxfordSilkGroup):

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Es strahlt in natürlichem Gold
Jeweils in den frühen Morgenstunden gingen die Helfer auf Spinnenfang. Anschliessend gewannen sie die Fäden mit speziell konstruierten «Spinnfäden-Melkmaschinen». Sie fixierten die Spinnen auf einem Brett, zogen den Spinnfaden vorsichtig mithilfe einer Pinzette aus der Spinndrüse und rollten ihn auf eine Handspindel auf. Als Vorlage für diesen «Spinnen-Melkstand» dienten Berichte und Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert. Schon damals gab es Versuche, die begehrten Spinnfäden maschinell zu gewinnen.

Pro Spinne nahm der Vorgang etwa 20 Minuten in Anspruch und ergab zwischen 30 und 40 Metern Spinnfaden. Allerdings benötigt man die Spinnfäden von rund tausend Spinnen, um nur ein einziges Gramm Seide zu produzieren. Insgesamt wurden für das Cape nicht weniger als 1,2 Millionen Seidenspinnen eingefangen. Nach dem Melkvorgang erhielten die Spinnen ein paar freie Tage. In dieser Zeit regenerierten sie den Inhalt ihrer Spinndrüsen und konnten danach erneut gemolken werden. 

Die gewonnenen Spinnfäden wurden in speziellen Webstühlen zu Textilstücken verwoben. Darauf zu sehen sind feinste Muster, zum Beispiel Blüten und Ranken, aber auch kleine Spinnen. Insgesamt war vor allem der Personalaufwand für die Herstellung des Capes immens: Peers und Godley errechneten – trotz der auf Madagaskar eher niedrigen Löhne – Kosten von damals umgerechnet rund einer halben Million Franken. Der heutige Wert des Meisterstückes beträgt mit gros­ser Sicherheit ein Vielfaches.

Wie das Cape gewoben wird (Video: ODN):

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Das Cape wurde übrigens nicht eingefärbt, die goldene Farbe der Spinnfäden ist natürlichen Ursprungs, weshalb die Madagaskar-Seidenspinne im Englischen auch den schönen Namen Golden orb weaver spider trägt. Wissenschaftler vermuten, dass das Gold möglicherweise Insekten, also potenzielle Beutetiere, anlockt. Nach einer anderen Theorie soll es das Netz für Beutetiere schlechter sichtbar machen.

Bakterien übernehmen die Arbeit
Das «Goldene Cape» wurde bislang erst vier Mal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zuerst 2009 im American Museum of Natural History in New York, dann 2011 in der African Gallery des Art Institute von Chicago und 2012 im Victoria and Albert Museum in London. Zuletzt war das Cape im Juni 2018 im Royal Ontario Museum in Toronto zu bewundern. Dort wurde es bei der Eröffnung der Ausstellung von einer Jurorin der Kultsendung «America’s Next Top Model» vorgeführt.

Möglicherweise wird es in Zukunft mehr Kleidungsstücke aus den Spinnfäden der Madagaskar-Seidenspinne geben. Allerdings werden nicht die grossen Spinnen selbst bei der Herstellung dieser Textilen mitwirken, sondern Bakterien. Mittlerweile ist es nämlich gelungen, künstliche Spinnseide mithilfe von gentechnisch veränderten Kolibakterien zu gewinnen. Ein Prototyp-Parka, der im Auftrag eines US-amerikanischen Outdoor-Bekleidungsherstellers hergestellt wurde, existiert bereits.

Die African Art Gallery von Chicago erklärt die Gesichte und den Herstellungsprozess von Spinnenseide (englisch) (Video: The Art Institute of Chicago):

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