Es war im Sommer 2016, als ein Wissenschaftler auf einem Forschungsboot im 660 Kilometer langen Ästuar des Sankt-Lorenz-Stroms den Irrgast entdeckte. Er fotografierte eine Herde vorbeiziehender Belugas. Bei späterem Hinsehen war schnell klar: Einer der Wale war nicht wie die anderen. Er unterschied sich von den Weisswalen klar durch seine dunkle Färbung – und seinen unverkennbaren Stosszahn. Ein Narwal hatte sich den Belugas angeschlossen – 100 Kilometer südlich von seinem normalen Verbreitungsgebiet.

Veblüffenderweise schienen die Belugas den Narwal zu akzeptieren und komplett in die Herde integriert zu haben. «Sie sind in stetigem Kontakt miteinander», sagt Robert Michaud, Direktor der «Group for Research and Education on Marine Mammals (GREMM)» gegnüber dem kanadischen Sender CBC News. «Es ist ein grosser, sozialer Verbund von jungen Männchen, die soziale, sexuelle Spiele spielen.»

Obwohl Belugas und Narwale nahe verwandt sind – sie sind die einzigen beiden Mitglieder der Familie der Gründelwale – interagieren sie normalerweise nicht gross miteinander. Obwohl beide Walarten in nördlichen Gewässern leben, der Narwal noch etwas nördlicher als der Beluga, unterscheiden sich ihre Verhaltensweisen. Der Narwal lebt überdies sehr zurückgezogen und jagt oft unter dem Eis. Menschen kriegen ihn nur äusserst selten zu Gesicht, denn er scheint sehr empfindlich auf Störungen zu reagieren (lesen Sie hier mehr dazu). 

Narwal verhält sich wie Beluga
Der Narwal im Sankt-Lorenz-Strom weiss dies wohl alles nicht. Bei seinen Adoptivbrüdern aber fühlt er sich wohl. «Er benimmt sich wie einer von den Jungs», sagt Michaud. Dazu gehöre beispielsweise das Herumpusten von Luftblasen. Die Form der Blasen zeigt laut einer Studie aus dem Jahr 2015 bei Belugas an, ob sie gut oder schlecht gelaunt sind. Die Belugas im Gegenzug verhalten sich dem Narwal gegenüber nicht anders, als gegenüber anderen Belugas.

Laut Michaud sei es für junge Narwale und Belugas nicht unüblich, lange Reisen zu unternehmen. Finden sie dann keine Artgenossen mehr, könne es schon mal vorkommen, dass sie versuchen, sich mit einem Boot anzufreunden und dabei von den Schiffsschrauben verletzt werden. Der kleine Narwal im Sankt-Lorenz-Strom habe grosses Glück gehabt, denn er habe «fast normale Kumpel» gefunden. 

Wie es mit der Patchworkfamilie weitergeht, wenn der Narwal eines Tages anfängt, sich nach einem Weibchen umzuschauen, ist ungewiss. «Falls der Narwal sich entschliesst, sein Leben mit den Belugas zu verbringen, werden wir sicher einiges lernen können», sagt Michaud. Eine 1993 veröffentlichte Studie jedenfalls glaubt, den Schädel eines Narwal-Beluga-Hybriden beschrieben zu haben. Es scheint also zumindest einmal schon eine solche Paarung gegeben zu haben.

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