Die Blindschleiche ist das wohl häufigste Reptil der Schweiz. Man findet sie in vielen Gärten: wenn man den Kompost umgräbt, wenn man einen Bretterhaufen umschichtet oder ganz einfach, wenn sie sich im Gras sonnt. Und doch halten auch solche Allerweltsarten für Forscher noch immer Überraschungen bereit. 

«Bis vor einigen Jahren ging man davon aus, dass in ganz Europa nur eine Blindschleichenart existiert, zumal es kaum Unterschiede gibt, was das Aussehen betrifft», sagt Sylvain Ursenbacher, ein Reptilienspezialist an der Universität Basel. Doch dann habe eine internationale Forschergruppe Genproben von Blindschleichen aus verschiedenen Regionen untersucht – und deutliche Unterschiede gefunden. «Heute sind mehrere Arten anerkannt.»

Eine davon ist die Italienische Blindschleiche, mit wissenschaftlichem Namen Anguis veronensis. «Man hat sie südlich der Alpen in Italien und Frankreich nachgewiesen», sagt Ursenbacher. Die Vermutung lag also nahe, dass sie auch im Tessin leben könnte. Gemeinsam mit Forschungskollegen ging Sylvain Ursenbacher dieser Vermutung nach. 

Deutliche genetische Unterschiede
Die Wissenschaftler sammelten dazu Proben von Blindschleichen im Tessin und im Kanton Graubünden. Zudem liehen sie sich Tiere aus, die in den Naturmuseen in Bern, Basel, Genf, Chur und Lugano aufbewahrt werden. Insgesamt untersuchten sie rund 140 Blindschleichen auf genetische und morphologische Unterschiede. 

Das Resultat: «Alle untersuchten Blindschleichen im Tessin und im Misox gehören genetisch eindeutig zur Art veronensis», sagt Ursenbacher. «In allen übrigen Regionen – überraschenderweise auch in den Bündner Südtälern Puschlav und Bergell – zählen die Blindschleichen zu unserer bekannten Art, Anguis fragilis.» Die genetischen Unterschiede sind laut ihm so gross, dass sich die beiden Arten vor sechs bis sieben Millionen Jahren getrennt haben müssen.

«Es ist natürlich schön, dass die Schweiz damit eine Tierart mehr hat», sagt der Forscher. Mit blossem Auge voneinander unterscheiden liessen sich die beiden Blindschleichenarten aber nicht. Zwar scheint die Bauchfärbung der südlichen Art etwas heller zu sein und die Weibchen sind auf den Seiten etwas stärker gepunktet, aber weil es auch innerhalb der beiden Arten ganz unterschiedlich gefärbte und gemusterte Tiere gibt, wäre eine Farbbestimmung ungenau. Auch die Länge oder die Schuppen am Schwanz sind laut Ursenbacher keine guten Bestimmungsmerkmale, zumal viele Blindschleichen im Lauf ihres Lebens beim Angriff eines Feindes einen Teil ihres Schwanzes abgeworfen haben.

Könnte es also sein, dass es sich statt um zwei verschiedene Arten bloss um zwei Populationen handelt? Dass sich die Blindschleichen südlich der Alpen zwar etwas anders entwickelt haben als jene nördlich der Alpen – dass sie sich aber ganz selbstverständlich miteinander paaren, wenn sie im selben Gebiet vorkommen? Ursenbacher glaubt das nicht. «Bislang haben wir keine Hinweise darauf gefunden, dass es zwischen Anguis fragilis und Anguis veronensis zu solchen Hybridisierungen kommt», sagt er.

Kaum entdeckt, schon gefährdet
Ganz ausschliessen könne man dies aber nur, wenn man sogenannte Kontaktzonen finde. «Geht man im Puschlav oder im Bergell Richtung Süden, wird man irgendwann in eine Region kommen, in der sich die beiden Arten treffen», erklärt Ursenbacher. «Gibt es dort deutliche genetische Unterschiede, ist Anguis veronensis definitiv eine klar abgegrenzte Art.» Allerdings sei ihm kein Forschungsprojekt bekannt, das diese Frage in nächster Zeit in Angriff nehme.

Für Spezialisten scheint die Sache indes klar zu sein: Laut Ursenbacher werden in den nächsten Monaten das Schweizerische Zentrum für Kartografie der Fauna (CSCF) und die Koordinationsstelle für Amphibien und Reptilienschutz in der Schweiz (Karch) über die neue Art informieren – mit dem Ziel, dass Freiwillige künftig Blindschleichenbeobachtungen aus dem Tessin als Anguis veronensis melden. Zudem soll 2019 eine aktualisierte Rote Liste der Reptilienarten in der Schweiz erscheinen. 

Für die bisher bekannte Anguis fragilis ändert sich damit wohl nichts. Zwar setzen gemäss Experten auch der Blindschleiche die Bautätigkeit und der Hang zu gepützelten Gärten zu. Zudem werden viele Tiere von Katzen erbeutet, von Fadenmähern zerschnitten oder von Autos überfahren, wenn sie sich auf Strassen und Wegen aufwärmen. Trotzdem gilt die herkömmliche Blindschleiche vorderhand als «nicht gefährdet». Die neue Italienische Blindschleiche dagegen wird aufgrund ihres kleinen Verbreitungsgebiets in der Schweiz eine Seltenheit sein und – kaum entdeckt – wahrscheinlich den Status «verletzlich» erhalten.