Rund 35'000 Rothirsche leben derzeit in der Schweiz. Vor rund 150 Jahre hatte es dagegen praktisch keine mehr gegeben. Gründe waren laut Reinhard Schnidrig, Chef der Sektion Wildtiere und Waldbiodiversität im Bundesamt für Umwelt (BAFU), dass Wälder gerodet und Wild geschossen wurde und Vieh zum Weiden in die Wälder getrieben wurde. Dass ab 1870 aus Österreich Hirsche in die Schweiz einwanderten, hat laut Schnidrig auch einen gesellschaftlichen Grund: «In Österreich überlebte im Gegensatz zur Schweiz der Adel, und die Hirschjagd war Adligen vorbehalten.» Die Tiere wurden deshalb gehegt und gepflegt.

«Die Rothirsche holen sich heute ihr angestammtes Gebiet zurück», sagt Schnidrig. Unterstützten zu Beginn Jagdgesetze und die Hege durch die Jäger die Hirsche bei der Rückkehr, sind es in jüngster Zeit die milden Winter, mehr Waldflächen und eine grössere Pflanzenvielfalt in den Wäldern.

Sorge um Bündner Schutzwälder
In Graubünden lebten im vergangenen Sommer 21'000 Hirsche, wie Gion Cotti sagt. Er ist zuständig für den Jagdbereich im kantonalen Forstdepartement. Im Spätherbst vermeldete der Kanton dann eine Rekordzahl von Abschüssen: Über 5000 Rothirsche mussten die Jäger allein in Graubünden zur Strecke bringen. Hohe Abschussquoten setzen die Behörden wegen der Schäden fest, die die Hirsche hinterlassen. Auf siebzig Prozent der Waldflächen im Kanton gebe es Schäden, die Tendenz sei steigend, sagt Cotti. Der derzeitige Überbestand sei ein Problem. Hirsche fressen Endtriebe von kleinen Bäumchen, und Bast vom Geweih fegende Hirschstiere können Jungbäumen arg zusetzen. Graubünden macht sich vor allem Sorgen um seine Schutzwälder.

Nicht nur in Graubünden, auch im Tessin, in der Zentralschweiz, im Goms und im Osten des Berner Oberlandes sind die Hirschbestände gesättigt, wie Schnidrig sagt. Im Mittel- und Unterwallis, in den Nordwestalpen, im Emmental, im Oberaargau und im nördlichen Jurabogen gibt es dagegen noch Lücken. Im Genfer und im Waadtländer Jura haben Hirsche aus Frankreich das Terrain besetzt.

Dichtestress bei Hirschen
Von den Voralpen her sind die Hirsche sogar ins dicht besiedelte Mittelland gezogen. «Dort hätte ich sie nicht erwartet», sagt Schnidrig. Eher kleine zusammenhängende Waldflächen, viele und zum stark befahrene Strassen und zahlreiche Spaziergänger, Biker und Jogger in den Wäldern hielten die menschenscheuen Tiere nicht ab.

Dichtestress ist für Hirsche kein Fremdwort mehr. Gibt es in einem Gebiet so viele von ihnen, dass die Nahrung knapp werden könnte, reagieren die Tiere – die Kühe werfen eher eines als zwei Kälber im Jahr. Ist dagegen Platz vorhanden und bietet die Umgebung genug zum Fressen, gibt es bei Hirschen mehr Zwillingsgeburten. «Das lässt sich in den dicht besiedelten Regionen und in den Gebieten, die der Hirsch noch am Besiedeln ist, beobachten», sagt Schnidrig. Greifen die Jäger nicht ein, werden bei zu grossen Populationen in einem strengen Winter Hunger und Krankheiten sehr viele geschwächte Tiere dahinraffen.

Feine Nase
Auf der Pirsch ist der Hirsch trotz seiner Körpergrösse nicht leicht zu schiessen: «Mit seiner feinen Nase riecht er die Jäger», sagt Cotti. Die intelligenten Tiere erinnerten sich zudem an frühere Abschüsse und spürten es, wenn ein Jäger in ihrer Nähe sei. Hirschfleisch sei vor allem in der Jagdsaison gefragt.

Einen kleinen Beitrag zur Regulierung des Hirschbestandes leisten die etwa zehn Wölfe des Calanda-Rudels. «Sie reissen im Jahr etwa 300 Hirschkälber, Rehe und Gemsen», sagt Cotti. Allein die Wölfe werden die Hirschregulierung aber nie übernehmen. «Das bräuchte garantiert mehr Wölfe als wir politisch ertragen», sagt Schnidrig.

Obwohl in der Schweiz heute rund 35'000 Hirsche leben, sind die nachtaktiven Fluchttiere zumindest im Flachland kaum je zu sehen. Wer wissen will, ob er gerade den Weg eines Hirsches kreuzt, sollte auf Trittsiegel im Boden achten. Beobachten lassen sich Hirsche am ehesten in den Bergen oder während der Brunftzeit im Herbst.