Ein Augustmorgen wie aus dem Bilderbuch. Halb zehn, die Sonne heizt schon ordentlich. Doch Gerhard Vonwil ist es noch nicht warm genug. Kurzerhand krempelt er die Exkursionsroute um. «Auf unserer Flussseite hat es noch Schatten, beginnen wir dort drüben», sagt er und zeigt über die Reussbrücke, die hier im Aargauer Freiamt die Gemeinden Rottenschwil und Oberlunkhofen verbindet.

Es ist ein eher untypischer Libellen-Lebensraum, auf den Vonwil nun gemächlichen Schrittes zusteuert. Unterwegs erklärt er, dass die meisten der ungefähr 80 einheimischen Libellenarten an stehenden Gewässern, an Tümpeln, Teichen und Seen leben. Nur wenige sind angepasst an Flüsse oder an langsam dahinfliessende Bächlein, wie nun eines vor uns liegt. Es ist gesäumt von einer dichten Krautschicht: Schilf, Seggen und Gräser bilden einen grünen Teppich, in dem Blutweiderich und Kratzdisteln für Farbtupfer sorgen. 

Wettstreit der Flieger
Etwas Unsichtbares bewegt sich im hohen Gras, vielleicht ein Frosch. Und da, elfengleich, schwebt eine Art geflügeltes Stäbchen daher. «Eine Federlibelle», erklärt Vonwil. «Sie kommt typischerweise an grösseren, schattigen Weihern und an Fliessgewässern vor.» Je genauer wir hinschauen, desto mehr dieser zerbrechlich wirkenden Insekten entdecken wir: bläulich schimmernde Männchen ebenso wie beige-bräunliche Weibchen. Sogar ein paar noch ziemlich blasse Individuen. «Die sind wohl erst kürzlich geschlüpft», sagt Vonwil.

Unmittelbar über dem kleinen Bachlauf, ein paar Meter vom Weg entfernt, entdeckt der Experte nun etwas Dunkles, das in der Luft gaukelt, als wäre es ein Falter. «Das ist die Gebänderte Prachtlibelle, die wohl bekannteste Libellenart an Fliessgewässern», sagt er. Die Männchen sind einfach zu erkennen an ihrem schillernd dunkelblauen Körper und am breiten, blau-schwarzen Band in der Flügelmitte. Die Weibchen sind, wie bei vielen Libellenarten, unauffälliger gefärbt. Nun gesellt sich ein zweites Männchen zum ersten, und fast scheint es, als komme es zum Kampf: Die beiden stehen einander in der Luft Auge in Auge gegenüber, die Flügel schwirren, dass es auch auf dem Weg zu hören ist. Dann fliegt das eine knapp über das andere hinweg, dieses nimmt die Verfolgung auf. «Prachtlibellen haben ein ausgeprägtes Revierverhalten», erklärt Vonwil. «Die Flugspiele sind männliches Imponiergehabe.»

Sogar bei der Paarung fluchtbereit
Solche Flugshows gibt es hier zuhauf. Meter an Meter surren Prachtlibellen. Meist handelt es sich um die Gebänderte, an einigen Stellen findet Vonwil aber auch deren seltenere Schwesterart, die Blau­flügel-Prachtlibelle, bei der die Männchen vollkommen blaugrüne Flügel haben. Oft sitzen die Prachtlibellen-Herren auf einem Blatt über dem Wasser. «Kommt ein Weibchen angeflogen, zeigen sie diesem die besten Ei­ablageplätze in ihrem Revier», sagt Vonwil. 

Gefällt dem Weibchen das Plätzchen, beginnt die Paarung – ein eigenartiges Ritual. Mit den Hinterleibsanhängen packt das Männchen das Weibchen am Hinterkopf, wie mit einer Zange. Danach füllt es seinen Kopulationsapparat, der sich im vorderen Teil des Hinterleibs befindet, mit Sperma. Ist das Männchen paarungsbereit, biegt das Weibchen seinen Hinterleib nach vorn und berührt mit seiner Geschlechtsöffnung den Samenbehälter. So entsteht das typische Paarungsrad. «Wie genau sich ein solch kompliziertes Paarungssystem entwickeln konnte, ist nicht bekannt», sagt Vonwil. «Der Vorteil ist aber, dass Libellen so flugfähig bleiben und bei Gefahr gemeinsam fliehen können.»

Zur Eiablage suchen die Weibchen stets das Wasser auf. Einige Arten lassen ihre Eier einfach ins Wasser plumpsen. Andere, wie die Prachtlibellen, bohren sie in Wasserpflanzen hinein. Und wieder andere wählen morsches Holz oder sandigen Boden als Ablagesubstrat. Aus den Eiern werden Larven, die von vielen anderen Wasserlebewesen als Räuber gefürchtet sind und aus denen sich  dann – je nach Art – in wenigen Monaten oder in einigen Jahren die ausgewachsene, flugfähige Libelle schält, die nur wenige Monate lebt.

Experten unterscheiden zwischen Gross- und Kleinlibellen. Letztere, zu denen auch die Prachtlibellen und die Federlibelle zählen, sind meist kleiner, zudem klappen sie ihre Flügel beim Absitzen über dem Hinterleib zusammen. Grosslibellen dagegen spreizen ihre Flügel in Ruhestellung seitlich vom Körper ab.

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Libellenexperte Gerhard Vonwil
  Bild: Simon Koechlin

Es ist nun noch wärmer geworden. Vonwil beschliesst, dass es Zeit wird, auf der gegenüberliegenden Reussseite nach Libellenarten zu suchen, die an stehende Gewässer angepasst sind. Der 58-Jährige arbeitet im Unterhaltsdienst der Abteilung Landschaft und Gewässer des Kantons Aargau und kennt das Gebiet wie seine Westentasche. Im Schutzgebiet Stille Reuss, das wir nun betreten, ist er mitverantwortlich für Aufwertungsmassnahmen: Vor etwa sechs Jahren baute der Kanton zwischen dem heutigen, geraden Lauf der Reuss und dem hufeisenförmigen Altlauf diverse Tümpel und Teiche – ein Paradies für Libellen. 

Keine Gefahr für den Menschen
Seit 28 Jahren führt Vonwil hier Erhebungen durch. Die Aufwertungen hätten rasche Erfolge gebracht, sagt er. «Libellen sind agil und besiedeln neue Gebiete schnell, wenn ihnen die Bedingungen passen.» Heute leben rund 40 Libellenarten im und ums Schutzgebiet Stille Reuss.

Trotzdem: Gerade wimmeln tut es nicht, als Vonwil nun den Steg an einem grossen Teich betritt, den Naturfreunde für Beobachtungen nutzen dürfen. Bald aber entdeckt er eine rötliche Libelle. «Das ist eine männliche Grosse Heidelibelle», erklärt er. Es ist nicht die einzige rote Libellenart, die hier lebt: Kurz darauf findet das geübte Auge des Experten eine Blutrote Heidelibelle, eine Sumpf-Heidelibelle und eine Feuerlibelle. Letztere war einst eher im Mittelmeergebiet verbreitet, mit der Klimaerwärmung breitete sie sich aber auch bei uns stark aus. Überhaupt habe die Erderwärmung die Libellenfauna ziemlich durcheinandergewirbelt, sagt Vonwil. Im Reusstal seien Arten wie die Schabrackenlibelle oder die Südliche Binsenjungfer aufgetaucht, die vorher nicht hier lebten. 

Je näher die Mittagsstunden rücken, desto mehr Libellen schwirren durch die Luft. Da ist zum Beispiel der Östliche Blaupfeil – auch er ein Neuzuzüger in der Schweiz. Erst ab den 1980er-Jahren hat er sich in weiten Teilen des Landes angesiedelt. Oder die Hufeisen-Azurjungfer, blau-schwarz gezeichnet und die häufigste Kleinlibelle der Schweiz. Und natürlich die Grosse Königslibelle, schnell fliegend und ein Gigant unter den heimischen Libellen. Selbst auf dem Schottersträsschen entdeckt Vonwil schliesslich eine Libelle: «Eine Kleine Zangenlibelle», sagt er, «diese Art wärmt sich gerne auf Feldwegen.» 

Mit ihrer gelb-schwarzen Färbung ist die Zangenlibelle erstaunlich gut getarnt auf dem Kies. Andererseits bedeuten Farben wie Gelb und Schwarz oder Rot im Tierreich oft «Achtung Gefahr». Ob dies mit ein Grund ist, weshalb es laut Vonwil noch heute viele Menschen gibt, die glauben, Libellen würden stechen? Tatsache ist, dass der Experte Entwarnung geben kann. «Libellen haben keinen Stachel und sind absolut ungefährlich», sagt er. Es sind einfach nur faszinierende Geschöpfe, die benötigen, was die meisten von uns Menschen ebenfalls lieben: Wasser und viel Sonne.