Fressen oder gefressen werden, lautet das vorrangige Credo der Tierwelt. Pflanzenfresser werden von Räubern vertilgt, diese ihrerseits von grösseren Raubtieren und so weiter. Nirgendwo wird uns dies deutlicher vorgelebt, als im Insektenreich. Als nahrhafte Beute haben die Sechsbeiner zahllose Feinde, die sich stets für einen saftigen Proteinhappen begeistern lassen. Um das zu verhindern, haben die Insekten verschiedene Strategien entwickelt. Das Spektrum ist breit, es führt von mechanischer und chemischer Bewaffnung über visuelle, olfaktorische und akustische Abschreckung bis hin zu Schnelligkeit und schierer Grösse. Eine der erfolgreichsten Strategien hat sich im Lauf der Evolution immer wieder durchgesetzt: perfekte Tarnung. Wer für einen Stein, Vogelkot oder eine Pflanze gehalten wird, dessen Chancen steigen beträchtlich, den Augen eines Räubers zu entgehen. Besonders beeindruckend imitieren die Insekten verschiedene Pflanzenteile.

Grünes Laub …
So genannte Wandelnde Blätter (Bild 1), die zu den Gespenstschrecken gehören, sehen grünen Blättern täuschend ähnlich. Form, Adern, Frassspuren, bräunliche Trocknungsflecken – alles ist vorhanden wie bei einem echten Blatt. Auch die Gottesanbeterinnen und Heuschrecken haben sehr überzeugende Nachahmer lebenden Blattwerks hervorgebracht. Sie sind in der freien Natur dank ihrer fantastischen Tarnung kaum zu entdecken.

… und totes Blattwerk
Es wird aber nicht nur grünes Laub imitiert. Viele Gottesanbeterinnen, etwa die in Asien heimische Deroplatys, sind Beispiele dafür, dass Insekten auch totes Laub nachahmen. Im Geäst oder auf dem Waldboden sind sie nur mit geübtem Auge zu erkennen. Auch die Jungtiere vieler Gespenstschrecken sehen aus wie vertrocknetes Pflanzenmaterial, darunter die der asiatischen Heteropterix (Bild 6). Blattartige, kleine Lappen an Körper und Beinen und ihre dörrlaubartige Färbung lösen ihre Körperform optisch auf, sodass sie mit ihrem Hintegrund verschmelzen. Bei Tag harren sie an die Vegetation geklammert aus, um sich nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf die Suche nach Nahrung zu machen.

Auch einige Schmetterlinge sind hervorragend getarnt, wenn sie ihre bunten, auffällig gemusterten Flügeloberseiten verstecken, indem sie sie auf dem Rücken zusammenklappen. So sind nur noch die tarnfarbigen Unterseiten zu sehen, die von einem trockenen Blatt kaum zu unterscheiden sind.

Der in Mitteleuropa heimische Blattlauslöwe Drepanepterix imitiert totes Laub. Seine dachartig angelegten Flügel gleichen einem vertrockneten und angenagten Blättchen. Will er sich tarnen, zieht er den Kopf zwischen die Flügel zurück und ist dann in der Vegetation nicht mehr zu entdecken.

Stöckchen und Grashalme
Auf die perfekte Nachahmung von Stöcken und Grasstängeln verlegen sich die Stabschrecken. Lang gestreckt und mit langen, dünnen Beinen gleichen sie den dünnen Ästen der Gebüsche, in denen sie tagsüber reglos hängen. Wer aufmerksam sucht, kann diesen Insekten im Tessin und im Wallis begegnen.

Auch unter den Gottesanbeterinnen findet man Stocknachahmer. Einige von ihnen tragen sogar kleine lappige Auswüchse an Körper und Beinen, die dem Betrachter aus dem Ast spriessende Blattknospen vorgaukeln. Andere haben extrem gestreckte, dünne Körper und Beine und sehen aus wie kräftige Grasstängel. Selbst die ansonsten eher robust gebauten Heuschrecken haben dünne, stabförmige Arten hervorgebracht. Die Pferdekopfschrecken zum Beispiel sind für den Laien von Stabschrecken schwer zu unterscheiden, und durch ihre träge Bewegungsweise in der Vegetation vor Feinden zusätzlich geschützt.

Flechten und Moose
Insekten haben auch die Rinde von Bäumen als Lebensraum erobert. Eine Tarnung als Ast oder Blatt macht hier weniger Sinn, aber die Nachahmung der Rinde selbst und auf ihr wachsender Moose und Flechten schon. Einige Arten begnügen sich mit einer der überwucherten Rinde ähnelnden Färbung, sehen aber ansonsten aus wie ihre ungetarnten Verwandten. Spektakulärer ist die Tarnung, wenn Rindenbewohner sich auch in der Gestalt anpassen. Einige Arten der Gottesanbeterinnen leben in Moospolstern auf Bäumen. Sie tragen am ganzen Körper moosartige Auswüchse, die sie optisch zu Moos werden lassen.

Auch etliche Stab- und Gespenstschrecken-Arten leben auf Rinde. Sie sind flach und breit gebaut und schmiegen sich eng an den Baum an. Lappenartige Auswüchse und Haare an Beinen und Körperseiten lösen den Körperumriss dieser Tiere vor der Rinde auf und lassen sie verschwinden.Unter den Heuschrecken sind einige in Südamerika beheimatete Arten perfekte Flechtennachahmer. Ihr Körper ist weiss mit schwarzen Flecken, die Beine und der Vorderkörper sind gewellt und gelappt. Dadurch wird ein auf Flechten sitzendes Tier nahezu unsichtbar. 

Auch viele andere Insekten haben Moos- und Flechtennachahmer hervorgebracht. Käfer, Zikaden und Schmetterlinge sind nur einige Beispiele. Selbst in der mitteleuropäischen Fauna findet man solche Arten. Viele Nachtschmetterlinge, beispielsweise die Lindeneule und der Birkenspanner, sind auf Baumrinde sitzend unsichtbar.

Eine etwas andere Blume
Auf eine ganz andere Art der Tarnung setzt die Orchideen-Mantis (Bild 5). Die frisch geschlüpften Jungtiere dieser asiatischen Gottesanbeterin sind grellrot mit schwarzem Kopf und Beinen. Es wird angenommen, dass sie junge Raubwanzen imitieren. Mit der ersten Häutung aber findet eine radikale Umfärbung statt. Danach sind die Tiere durchscheinend weiss und gleichen nach jeder Häutung immer mehr weissen, mit zartem Rosahauch überzogenen Orchideenblüten. Das hat ihnen ihren deutschen Namen eingebracht. Gerundete Lappen an den Beinen erwecken den Eindruck von Orchideen-Blütenblättern. Mit der Verkleidung als Blüte erzielt die Gottesanbeterin doppelte Wirkung: Nicht nur entgeht sie selbst ihren Feinden, sondern sie bleibt zudem unsichtbar für die Beute, auf die sie lauert.

Oftmals unterstützen Insekten ihr perfekt getarntes Äusseres durch ihr Verhalten: Fühlen sie sich gestört, beginnen sie oft, leise hin und her zu schaukeln, als ob sie vom Wind bewegt würden. Bei Stab- und Gespenstschrecken gleichen sogar die Eier Pflanzenteilen – nur Kenner können sie von Pflanzensamen unterscheiden. Tarnung als Pflanzenteil ist ein weitverbreitetes Phänomen. Es findet in den Tropen die grösste Vielfalt, wer aber die Augen offen hält, begegnet ihm vielleicht auch bei einem Spaziergang durch die Natur unserer Breiten.