New York, Tokio, Buenos Aires, London, Berlin, Zürich. Metropolen sind Magnete. Sie ziehen Menschen magisch an – weil hier grosse Firmen gute Arbeitsplätze zu vergeben haben oder weil an jeder Ecke ein Kino, eine Bar, ein Theater lockt. Schon heute leben laut einem Uno-Bericht 55 Prozent der Menschheit in Städten, bald werden es noch deutlich mehr sein.

Im Schlepptau des Menschen kommen auch Tiere in die Städte. Einige Arten, zum Beispiel Füchse und Tauben (siehe Texte Seiten 16 und 18) oder Ratten und Küchenschaben, profitieren von Vorräten und Essensresten. Viele andere haben sich schlicht arrangiert oder arrangieren müssen mit den neuen Lebensräumen, die ihnen der menschgemachte Mix aus Hochhäusern, Strassen, Parkanlagen und Balkonen bietet.

Das urbane Umfeld verlangt jedoch von seinen tierischen Bewohnern diverse Anpassungen. Es gibt Hindernisse in Form von Strassen und Häuserzeilen, mehr Lärm, mehr Licht, verschmutzte Luft; zudem sind Temperaturen der vielen versiegelten Flächen wegen höher als in ländlichen Gebieten. Bei Stadttieren sollten sich deshalb über kurz oder lang andere Eigenschaften entwickeln als bei Artgenossen, die auf dem Land weiterleben.

Wie sehr das Leben in urbanen Zentren die Evolution von Tieren prägt, zeigt eine Übersichtsstudie der Biologen Marc Johnson von der Universität Toronto in Kanada und Jason Munshi-South von der Fordham-Universität in den USA. Die beiden trugen rund 200 Studien zu dem Thema zusammen und präsentierten kürzlich im Fachmagazin «Science» einen ganzen Strauss von Beispielen. 

Hell, dunkel – und wieder hell
Das vielleicht bekannteste wird in Lehrbüchern unter der Bezeichnung «Industriemelanismus» beschrieben. Vom Birkenspanner, einem unscheinbaren Nachtfalter, gibt es zwei unterschiedliche Farbvarianten: eine helle und eine dunkle, melanistische. Ursprünglich dominierten die hellen Tiere. Sie waren kaum zu unterscheiden von den mit hellen Flechten übersäten Birkenstämmen, auf denen sie sich gerne ausruhen – und darum vor den gierigen Schnäbeln von Meisen, Rotkehlchen und Amseln gut geschützt. Dunkle Falter hingegen setzten sich auf der Birkenrinde quasi auf einen Präsentierteller.

Im 19. Jahrhundert beobachteten Forscher in englischen Industriestädten aber einen Wandel: Die dunkel gefärbten Falter wurden immer häufiger, 1897 machten sie im Industriegebiet Manchesters 98 Prozent des Bestandes aus. Der Grund dafür waren Fabrikschornsteine, deren Russ die Flechten abtötete und die Birkenrinde dunkel färbte. Nun war plötzlich die helle Farbvariante ein leichtes Fressen für Singvögel, dafür die dunkle gut getarnt.

In den 1960er-Jahren verschärften die Behörden die Luftreinhaltevorschriften. Der Russ verschwand, die Flechten kehrten zurück, die Baumstämme wurden wieder heller – und die Birkenspanner ebenfalls. Um das Jahr 2000 fanden Forscher auf hundert Falter nur noch sechs dunkel gefärbte.

Das Beispiel zeigt einerseits, dass die Evolution nicht immer Jahrtausende benötigt, um Arten sichtbar zu verändern. Für Studienautor Jason Munshi-South ist es aber auch Ausdruck eines neuen Zeitalters. Früher habe man Evolution als Prozess betrachtet, der von Umwelteinflüssen und dem Wechselspiel zwischen Arten angekurbelt werde, sagt er. «Heute zählen der Mensch und seine Städte zu den treibendsten Kräfte.» Und Marc Johnson ergänzt: «Wir haben ein neues Ökosystem geschaffen – eines, das kein Organismus je zuvor gesehen hat.» 

Spatzen und Schaben profitieren
Aber es ist eine Umgebung, mit der viele Tiere zurechtkommen. Zum Teil erstaunlich gut. Einige Arten verdanken sogar ihren Erfolg dem Menschen. Sie passten sich einst an das Leben in menschlichen Siedlungen an und verbreiteten sich später in seinem Gefolge über die ganze Welt. Von der Deutschen Schabe etwa nimmt man heute an, dass sie – entgegen ihrem Namen – aus Ost- und Südostasien stammt. Der internationale Handel brachte sie auf andere Kontinente, wobei ihr entgegenkam, dass der Mensch begann, in geheizten Häusern und Wohnungen zu kochen und seine Lebensmittel aufzubewahren. Heute gilt sie als häufigster Insekten-Schädling in urbanen Gebieten weltweit.

Auch der Hausspatz ist ein solcher Kulturfolger. Zu seiner Stammform gebe es keine gesicherten Erkenntnisse, sagt Manuel Schweizer, Kurator für Ornithologie am Naturhistorischen Museum Bern. Eine Hypothese sei, dass der Spatz ursprünglich aus dem südlichen Zentralasien stamme. «Die Haus­sperlinge, die dort in den Steppen leben, sind nicht an den Menschen gebunden, unterscheiden sich äusserlich von unseren Spatzen und es sind Zugvögel», sagt er. «Russische Vogelkundler betrachten sie gar als eigene Art.» 

Vielleicht haben einst einige dieser Steppenbewohner die Getreidefelder und -vorräte der frühen Ackerbauern als Buffet für sich entdeckt. Sie folgten dem Menschen rund um den Globus und besiedeln heute Dörfer, Vorstadtbezirke, Stadtzentren mit Parkanlagen, zoologische Gärten, Vieh- oder Geflügelfarmen und sogar Einkaufszentren in aller Welt. Die allermeisten von ihnen ziehen im Herbst nicht mehr in wärmere Gefilde.

Mücken im U-Bahn-Tunnel
Nimmt man eine menschliche Sichtweise ein, dann sind die Kakerlake und der Spatz Profiteure, die ihre ursprünglichen Lebensräume aus eigenem Antrieb verliessen. Ganz anders ein kleines, erstaunliches Insekt, das manchmal auch als Londoner U-Bahn-Mücke bezeichnet wird. Seine Geschichte ist umstritten, doch glaubt man dem bekannten US-Evolutionsbiologen David Reznick, begann sie um das Jahr 1860 mit den Bauarbeiten des Londoner U-Bahn-Netzes. Wie praktisch überall auf der Welt, war in der britischen Hauptstadt die Gemeine Stechmücke weit verbreitet. Die Weibchen ernährten sich in der warmen Jahreszeit hauptsächlich vom Blut von Vögeln. Den Winter verbrachten sie reglos in einem Unterschlupf, in dem sie nicht erfroren. Einige dieser Mücken gerieten in die U-Bahn-Tunnel und blieben darin gefangen, als die Konstrukteure das System vom oberirdischen London abschotteten.

In den U-Bahn-Schächten, schreibt Reznick in seinem Buch «The ‹Origin› then and now», hätten die Mücken natürlich keine Vögel gefunden. Sie waren gezwungen, ihre Ernährungsgewohnheiten umzustellen – und spezialisierten sich auf Ratten, Mäuse und Menschen. Weil es im Winter nie so kalt wurde wie an der Erdoberfläche, blieben sie bald das ganze Jahr über aktiv – was die Einwohner Londons während des Zweiten Weltkriegs, im Winter 1940 / 1941, am eigenen Leib erfuhren, als fast 180 000 Menschen in den U-Bahn-Tunneln Schutz suchten vor den deutschen Bombardierungen. Die U-Bahn-Mücken entwickelten sogar die Fähigkeit, ein erstes Eigelege abzulegen, ohne zuvor Blut gesaugt zu haben. «Wahrscheinlich», schreibt Reznick, «weil ihre Aussichten gering waren, eine Blutmahlzeit zu finden.»

Anderes Futter, anderer Gesang
Ähnlich anpassungsfähig ist ein kleiner Fisch mit dem wissenschaftlichen Namen Fundulus heteroclitus. Sein ursprünglicher Lebensraum sind die Gewässer des Atlantiks vor der Küste Nordamerikas. Von dort gelangte er über Wasserstrassen auch in die Häfen verschiedener US-Städte. An einigen Orten war er der einzige Fisch, der in den extrem verschmutzten Gewässern überlebte – weil er Resistenzen entwickelte gegen Gifte wie PCB, Dioxine oder Methylquecksilber.

Auf der Insel Puerto Rico verglichen derweil US-Forscher Stadt- und Land-Individuen einer kleinen Echsenart, Anolis cristatellus. In freier Natur hält sich der Anolis typischerweise auf Baumstämmen auf, in der Stadt flitzt er dagegen Mäuerchen und Hauswänden entlang. Dieser Umgebung scheint er sich angepasst zu haben – jedenfalls wiesen die Wissenschaftler in drei Städten nach, dass die dortigen Anolis längere Beine und mehr Haftlamellen an den Zehen haben.

Eines der bestuntersuchten Beispiele mensch­getriebener Evolution ist der Hausgimpel, ein kleiner, nordamerikanischer Singvogel, dessen Männchen an ihrem blutroten Kopf einfach zu erkennen sind. Er profitiert von der Vogelfütterungsleidenschaft im Land der unbegrenzten Möglichkeiten; 50 Millionen US-Amerikaner haben in ihrem Garten, auf ihrem Balkon oder in ihrem Hinterhof ein Vogelhäuschen oder eine Futterröhre aufgestellt. Der Hausgimpel ist einer der häufigsten Besucher an diesen Futterplätzen, vor allem wenn es dort Sonnenblumenkerne zu fressen gibt.

Studien zeigen, dass die Vögel sich daran angepasst haben. Stadtgimpel haben heute längere und kräftigere Schnäbel als ihre Verwandten auf dem Land, die sich von viel kleineren Gras- und Kaktussamen ernähren. Damit nicht genug: Mit der Schnabelform hat sich der Gesang der Gimpelmännchen verändert – und als Folge davon die Vorlieben der Weibchen. Urbane Gimpelweibchen bevorzugen heute andere Lieder als Artgenossinnen auf dem Land.

Zahmheit als Schlüssel zum Erfolg?
Was solche Entwicklungen für Tier und Mensch bedeuten, ist laut Johnson und Munshi-South noch kaum erforscht. Sie bezeichnen Städte als ein riesiges, weltumspannendes Experiment mit ungewissem Ausgang. Niemand kann sagen, wie oft sich Tiere dem städtischen Umfeld wirklich anpassen – und wie häufig ihre Bestände genetisch verarmen (siehe Box). Niemand weiss, ob aus Stadttieren neue Arten entstehen – und wenn ja, wie lange das dauert. Und niemand sieht voraus, welche Tierarten sich in der Stadt zurechtfinden werden. Sind Schädlinge besonders anpassungsfähig? Oder eingeschleppte Arten? Haben besonders clevere Arten in Städten einen Überlebensvorteil? Vorsichtige oder wagemutige?

Forscher um Daniel Hegglin von der Universität Zürich und vom Forschungs- und Beratungsbüro Swild haben beispielsweise den Begriff «Urbane Zahmheit» erfunden. Sie vermuten, dass Tiere in vielen Fällen ihre Scheu vor Menschen ablegen müssen, um die Stadt als Lebensraum erobern zu können. Und dass diese Anpassung des Verhaltens dazu führen kann, dass sich Stadt- und Landpopulationen einer Art  auseinanderentwickeln. Bewahrheitet sich die Theorie, wird – überspitzt gesagt – in den Städten von morgen nicht nur ein Grossteil der Menschheit leben, sondern auch ein scheinbarer Widerspruch: ein Haufen zahmer Wildtiere.

Die Mechanismen der Stadtevolution
Es gibt vier Mechanismen, die in Städten und urbanen Zentren auf die Evolution von Tierarten einwirken. Nicht immer entstehen dadurch Populationen, die besser an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst sind.

 

Mutation: Spontan auftretende, dauerhafte Veränderungen des Erbguts sind die eigentlichen Treiber der Evolution – ohne sie hätten alle Lebewesen dieselben Gene. Die meisten dieser sogenannten Mutationen allerdings haben entweder keinen oder sogar einen negativen Effekt auf die Fitness eines Organismus. Menschliches Tun kann solche Veränderungen provozieren; Luftverschmutzungen zum Beispiel erhöhen nachweislich die Mutationsrate. Die extremsten Beispiele sind radioaktiv verseuchte Orte wie Tschernobyl oder Fukushima, wo der Anteil mutierter Pflanzen, Tiere und Bakterien nach den Atomunfällen deutlich anstieg.

Gendrift: Städte werden anfangs oft nur von wenigen Tieren einer Art besiedelt. Bleiben diese dann unter sich, bleibt auch die genetische Vielfalt der entstehenden Population klein – und sie driftet vom Genpool der Gesamtpopulation weg, weil die Gründertiere nur einen Teil des gesamten Erbguts der Art mitgebracht haben.

Genfluss: Strassen und Häuserreihen sind für viele Tiere unüberwindbare Hindernisse. Sie verhindern den Genfluss, denn einzelne Bestände bleiben unter sich. Oft bewirken Gendrift und verringerter Genfluss gemeinsam, dass Populationen sich auseinanderentwickeln. Studienautor Jason Mushi-South untersucht zum Beispiel Weissfussmäuse in der Stadt New York. Dieses Tier hat in verschiedenen Pärken Bestände gebildet, doch diese sind voneinander abgeschnitten. Mushi-South sagt: «Wenn Sie mir eine Maus geben, kann ich sie ins Labor nehmen und anhand von wenigen genetischen Markern herausfinden, aus welchem Park sie stammt.»

Natürliche Selektion: Während Mutation, Gendrift und Genfluss Zufallsprozesse sind, sorgt die natürliche Selektion dafür, dass eine Population sich über Generationen besser ans städtische Umfeld anpasst. In Australien etwa haben Forscher nachgewiesen, dass Trauerschwäne in der Stadt öfter eine Genvariante besitzen, die für Unerschrockenheit dem Menschen gegenüber steht. Der Mechanismus ist klar: Scheue Schwäne finden in der Stadt weniger Futter, haben schlechtere Überlebenschancen und weniger Nachwuchs. So setzt sich das «Furchtlosigkeits-Gen» mit der Zeit durch.