«Es ist ein Rückschlag, das Ökosystem muss bei Null anfangen», sagte Chris  Robinson von der Wasserforschungsanstalt des ETH-Bereichs Eawag zur Nachrichtenagentur sda. Seine Forschungsgruppe Aquatische Ökologie ist an einem  ökologischen Vorzeigeprojekt am Spöl beteiligt.

In dessen Rahmen wird der Spöl seit zwölf Jahren zwei- bis dreimal pro Jahr mit  künstlichen Hochwassern geflutet. Seither hatte der Bach wieder die Dynamik  eines Wildbachs, und auch die typischen alpinen Lebewesen kehrten zurück. Das  Projekt galt als Paradebeispiel dafür, dass Ökologie und Wasserkraftnutzung  koexistieren können.  

Kaum erholt, schon wieder ausgelöscht  
Nun hat der Unfall den grössten Teil dieser Fauna wieder ausgelöscht - darunter  mehrere tausend Bachforellen. Wegen eines Ausfalls von Messinstrumenten war den Engadiner Kraftwerken (EKW) entgangen, dass das  Restwasser im Spöl versiegt war.  

Parkwächter hatten dies am Samstag entdeckt und Alarm geschlagen. Daraufhin öffneten die EKW die Grundablassschütze am Fuss der Staumauer. Diese werden auch sonst für die künstlichen Hochwasser verwendet. Doch dieses Mal floss daraus eine unkontrollierbare Menge Schlamm den Bach hinunter.  

Schlamm wie Zement  
Das Sediment, das nun fast das ganze Bachbett überzieht, enthält hohe Anteile  von Ton und ist sehr fein. Es könne sich verdichten und den Grund mit einer  zementähnlichen Schicht zubetonieren, warnt Robinson. Der Bach wäre dann für am  Boden lebende Organismen unbewohnbar, und auch Forellen könnten keine Laichgruben mehr anlegen.  

Robinson empfiehlt, das Sediment «möglichst rasch» mit einer kontrollierten Flutung von rund 30 Kubikmetern pro Sekunde (m3/s) wegzuspülen. Seit Montag  lassen die EKW wieder zwei bis fünf m3/s den Bach hinunter fliessen, damit das  Sediment nicht festsetzt, wie Jachen Gaudenz von den EKW auf Anfrage erklärte. Die Restwassermenge beträgt ansonsten etwa 0,5 m3/s.  

Das Wasser dazu wird aus dem Ausgleichsbecken Ova Spin hinaufgepumpt. Die Entscheidung, wann und wie geflutet werden soll, liegt bei der  Nationalparkverwaltung. Sprecher Hans Lozza warnt vor Schnellschüssen. Eine grosse Flut könnte auch noch die verbleibenden Organismen schädigen. Das Wasser im See müsse zudem sauber genug sein. «Zuerst müssen Wissenschaftler beurteilen, was am sinnvollsten ist», sagte er am Dienstag. Sie werden den Bach voraussichtlich noch diese Woche vor Ort begutachten.  

Mehr Sediment als vermutet  
Bei EKW und Nationalpark geht man davon aus, dass der rekordtiefe Wasserstand im Livigno-Stausee für die Sedimentbewegungen verantwortlich war. Die Wassermenge lag aber noch im rechtlich erlaubten Rahmen. Das kantonale Amt für  Jagd und Fischerei (AJF) hat gegen die EKW Anzeige erstattet. Das Amt hatte am Montag mitgeteilt, die Untersuchung müsse klären, weshalb der See so tief abgesenkt wurde.  

Die Ingenieure haben nach Ansicht von Wasserforscher Robinson falsch gehandelt, als sie die Grundablässe öffneten. Allerdings hätten die letzten Messungen auf keine ungewöhnlichen Sedimentwerte im Stausee hingewiesen, sagte Gaudenz dazu. Es sei mehr Sediment dort gewesen, als sie vermutet hätten.

Fünf bis zehn Jahre werde es gehen, bis sich die Tierwelt wieder erhole, schätzt Robinson. «Es gibt Organismen, die gut mit Störungen umgehen können und andere, die das nicht können», erklärte er. Erstere würden den Bach zuerst  wieder besiedeln, Letztere würden im Lauf der Zeit wieder passende Lebensbedingungen vorfinden.