Sie ist etwa 14 Zentimeter lang, 40 Gramm schwer, kann nicht fliegen und lebt auf einem 13 Quadratkilometer grossen Felsen im Südatlantik, der sich «Inaccessible Island» (unzugängliche Insel) nennt: die Atlantisralle. Sie ist nicht nur der kleinste flugunfähige Vogel der Welt, sondern lebt auch an einem der abgelegensten Orte auf diesem Planeten. Inaccessible Island ist ein unbewohnter, erloschener Vulkan und Teil des Tristan-da-Cunha-Archipels. Dieser befindet sich 3238 Kilometer von Cabo Frio in Brasilien und 2779 Kilometer vom Kap der Guten Hoffnung in Südafrika entfernt im Südatlantik. Auf der Hauptinsel Tristan da Cunha leben 266 Menschen, das nächste bewohnte Gebiet ist die 2400 Kilometer entfernte Insel St. Helena.      

Um die kleine, flugunfähige Ralle ranken sich deshalb allerlei Legenden. Der britische Arzt und Ornithologe Percy Lowe, der die Atlantisralle 1923 wissenschaftlich beschrieb, glaubte, sie sei auf vor Jahrmillionen existierenden Landbrücken nach Inaccessible Island gekommen. Diese Landbrücken seien als Folge von Vulkanausbrüchen untergegangen. Er gab der neuen Rallenart deshalb den Gattungsnamen Atlantisia, nach der sagenumworbenen Insel Atlantis, die, so sagt man, ebenfalls wegen einem Vulkanausbruch oder einer ähnlichen Katastrophe im Meer versank.      

«Keine grosse Überraschung»
Die Atlantisralle soll nach Lowe also schon flugunfähig gewesen sein, bevor sie Inaccessible Island bevölkerte. Später glaubte ein amerikanische Forscher, dass die Atlantisralle aus der Alten Welt kam. Ein Wissenschaftler-Team von der schwedischen Universität Lund hat nun gezeigt, dass Beides nicht so war. Demnach ist die Atlantisralle die Schwesternart des Fleckensumpfhuhns, das vor allem um den Mündungstrichter Rio de la Plata in Argentinien und Uruguay vorkommt. Eine weitere, entferntere Schwesternart ist die Schieferralle aus Süd- und Nordamerika. Beide dieser Arten können fliegen.      

Auch die Atlantisralle ist geflogen – und zwar nach Inaccessible Island. Von Südamerika her, von 1,5 Millionen Jahren, wie die vor Kurzem im Fachmagazin «Molecular Phylogenetics and Evolution» veröffentlichte Studie dank DNA-Analysen herausfand. «Dass sich Lowes Theorie als falsch herausstellte, war für uns keine grosse Überraschung», sagt Erstautor Martin Stervander in einer Medienmitteilung.      

Auf Inaccessible Island gibt es keine Räuber. Die Atlantisralle musste vor niemandem fliehen und verlor deshalb ihre Flugfähigkeit. So musste sie keine Energie mehr auf etwas verschwenden, das sie zum Überleben nicht braucht. «Es ist wichtig, dass man weiterhin schaut, dass keine Feinde der Atlantisralle auf der Insel eingeschleppt werden», sagt Co-Autor Bengt Hansson. «Wenn das passiert, könnte sie aussterben.»