Vor tausend Jahren streifte der zottelige Riese noch durch die Schweizer Wälder. Der Wisent, drei Meter lang, fast zwei hoch und eine halbe Tonne schwer, ist das grösste und schwerste Landtier Europas. Ein gemächlicher Koloss, der irgendwann im Mittelalter bei uns verschwand, weil Holzfäller seine Heimat, die Wälder, verschwinden liessen und weil ihn Jäger aus Hunger abschossen. Anderswo konnte sich der Wisent länger halten, aber auch nicht ewig: In Polen, im Urwald von Bialowieza, starb das letzte Tier 1919 an einer Kugel, im Kaukasus 1927. 

Dass der Wisent heute nicht ausgestorben ist, ist einem Dutzend Exemplaren zu verdanken, die in Zoos überlebten und dort vor Jägern sicher waren. Sein Verwandter, der Auerochse, hatte da weniger Glück. Der Vorfahre des heutigen Hausrindes starb schon im 17. Jahrhundert aus, als es noch keine Zoos gab, die sich um den Erhalt bedrohter Tiere kümmerten. 

Der Wisent befindet sich wieder im Aufschwung. 1952 wurde erstmals wieder eine Herde in Polen freigelassen. Dort leben heute gut 2000 Tiere. Weitere Projekte folgten, etwa eines in den rumänischen Karpaten, das vor zwei Monaten erst Nachschub aus dem Berner Tierpark Dählhölzli erhalten hat. Oder eines im Rothaargebirge in Westdeutschland, wo seit 2013 eine Wisentherde in freier Wildbahn lebt.

Viele Tiere sind zurückgekehrt
In der dicht bevölkerten Schweiz, wo kaum grosse, zusammenhängende Waldgebiete zu finden sind, scheint eine Rückkehr des Wisents auf den ersten Blick undenkbar. Christian Stauffer sieht das nicht so. Der Geschäftsführer des Netzwerks Schweizer Pärke will den Riesen in unsere Wälder zurückbringen. Es ist ein privates Projekt, das Stauffer und einige andere Wissenschaftler verfolgen. Im Moment köchelt es noch auf kleiner Flamme, doch Stauffer ist fest entschlossen: «So wie wir die Rückkehr des Wolfes zulassen, gehört auch der Wisent in die Schweiz.» 

Tatsächlich sah es in den Schweizer Wäldern lange sehr karg aus. Nicht nur Wolf, Luchs und Bär verschwanden Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Schweiz, auch der Rot­hirsch, das Reh und der Biber wurden fast oder ganz ausgerottet. «Irgendwann war der Feldhase der grösste Pflanzenfresser im Jura», sagt Stauffer. Heute ist ein grosser Teil der ursprünglich einheimischen Fauna wieder zurück. Sieht man einmal vom ausgestorbenen Auerochsen und dem Elch ab, fehlt nur noch der Wisent.    

Im Moment ist die Arbeitsgruppe auf Standortsuche. Wo der Wisent dereinst freigelassen werden soll, will gut überlegt sein. Klar ist für Stauffer, dass die Tiere nicht im Mittelland leben können. Zu allgegenwärtig ist dort der Mensch, zu zerstückelt die Natur. Die Alpen hingegen bieten dem Wisent keinen geeigneten Lebensraum. «Der Jura ist die einzige geeignete Landschaft», sagt der Zoologe. Also sucht die Gruppe im ganzen Jurabogen nach geeigneten Gebieten für den Wisent, sucht das Gespräch mit Behörden und Förstern, sondiert die Bereitschaft, den Riesen aufzunehmen.  

Auf grossen Widerstand sei die Gruppe dabei noch nicht gestossen. Vielleicht, weil das Projekt noch zu unbekannt ist. Vielleicht hat aber auch tatsächlich niemand etwas gegen eine Wiederansiedelung des Wisents. Die Jäger etwa, die sich zuweilen vehement gegen die Ausbreitung neuer (Raub-)Tiere wehren, scheinen nicht abgeneigt: «Von der Jagd aus kann man da im Grundsatz nichts dagegen haben», sagt Hanspeter Egli, Präsident des Verbandes Jagd Schweiz, auf Nachfrage. Und er ergänzt: «Wenn es gelingt, ist es eine Erweiterung der Artenvielfalt, und das ist positiv.»

Trotz der weitgehend positiven Reaktionen bleiben die Projektinitiatoren realistisch. Der Wisent bringt zwangsläufig Risiken mit sich, sollte er denn einmal frei in den Wäldern des Jura leben. Der Blick nach Deutschland zeigt das. Dort ist gerade ein Rechtsstreit im Gange, weil die Tiere in einem Waldstück die Rinde von Bäumen abknabberten. Ein Waldbesitzer hatte geklagt, obwohl er finanziell entschädigt wurde. Nun sieht es so aus, als müsste ein wisentsicherer Zaun gebaut werden, der die Tiere vom Besuch im Nachbarswald abhalten würde. Solche Probleme könnten auch auf Stauffer und sein Schweizer Wisentprojekt zukommen. Die grösste Sorge macht er sich allerdings nicht um die Wälder. Der Holzpreis ist tief, die Forstwirtschaft nicht wirklich profitabel. «Der Wald funktioniert in der heutigen Konstellation ökonomisch nicht.» Stauffer ist sich sicher: «Der Schaden wird durch den touristischen Wert mehr als aufgefangen.»

Wisent-Zäune wären riesig
Vielmehr macht sich Stauffer Gedanken über die Beziehung zwischen Tier und Mensch. Wie reagiert ein Spaziergänger, wenn er im Wald auf eine Herde Wisente trifft? «So ein Tier wirkt schon. Das hinterlässt einen Eindruck», sagt der Zoologe, der als ehemaliger Leiter des Wildnisparks Zürich viel Erfahrung mit den Wisenten im Tierpark Langenberg hat. Jedoch glaubt er nicht, dass es zwischen Menschen und Wisenten zu Konflikten kommen wird: «Kühe sind tendenziell gefährlicher als Wisente», sagt er. Die einzige Gefahr, die er nicht ausschliessen kann, sind Autounfälle. Das könne für den Menschen tödlich ausgehen.

Das grösste Problempotenzial des Wisents sieht Christian Stauffer in der Landwirtschaft. «Lokal können grosse Schäden entstehen.» Traut sich eine Herde nachts aus dem Wald auf ein Feld, ist es schnell zertrampelt und leer gefressen. Da ist Widerstand vonseiten der Bauern programmiert, Reparaturzahlungen hin oder her. Wisentsichere Zäune kommen nicht infrage, denn sie müssten zwei Meter hoch und aus Massivholz sein, um die Giganten in Schach zu halten. Sie würden das Landschaftsbild zu sehr stören. Allenfalls wären laut Stauffer Elektrozäune eine Lösung.

Lieber wäre ihm jedoch, wenn die Wisente freiwillig bleiben würden, wo sie sollen. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben: «Die Tiere bewegen sich nicht weiträumig im Gelände», sagt Stauffer. Wird dazu – wie etwa in Polen – eine spezielle Futterstelle eingerichtet, die sie gerne besuchen, können die Wisente ganz gut darauf «trainiert» werden, im Wald zu bleiben.

Platz für 1000 Wisente im Jura
Heute und morgen werden noch keine Wisente durch die Wälder des Jura stapfen. «Das ist noch ein langer Weg», sagt Stauffer. Doch sobald die Arbeitsgruppe ein paar geeignete Standorte findet, will sie ernst machen mit dem Projekt. In einer ersten Phase sollen die Wisente in einem grossen Gehege eingezäunt als Publikumsattraktion dienen. Dadurch soll bei der Bevölkerung auch das Interesse und die Toleranz gegenüber den Tieren gefördert werden. Rund zehn Jahre später sollen die Tore dann aufgehen und die Schweiz erstmals seit fast tausend Jahren wieder frei lebende Wisente haben.

«Im Jurabogen würde es 1000 Wisente vertragen», sagt Stauffer. Aber er weiss selbst, dass diese Zahl nicht realistisch ist. Genug Platz und Nahrung wäre vorhanden, die Frage sei aber, wie weit die Tiere akzeptiert werden. Realistisch seien ein paar Hundert Tiere. Das wären genug, dass sie, anders als in Polen, nicht gleich in den Weiten der Wälder verschwinden würden, meint Stauffer. «Damit würde der Wisent zu einer touristischen Attraktion und die Bevölkerung hätte auch etwas davon.»