Im Jahr 2020 soll in Basel das «Ozeanium» eröffnet werden. Ein 100-Millionen-Franken-Bau, in dem die Besucher künftig Einblick in die Welt der Ozeane erhalten sollen. Kritik gegen das Projekt wurde von Seiten der Umweltschutz-Organisation Fondation Franz Weber laut. Ein Grossaquarium, so die Stiftung, sei ein «Konzept des vergangenen Jahrhunderts». 

Genau genommen ist das Grossaquarium kein Konzept des letzten, sondern des vorletzten Jahrhunderts. Dies veranschaulicht das neu erschienene Buch «Aquaria in Kunst, Literatur & Wissenschaft» von Ursula Harter. Die Kunstgeschichts- und Literaturwissenschaftlerin nimmt ihre Leserschaft auf einen lehrreichen Streifzug durch die Welt der Aquarien und setzt sie auf ihrer Zeitreise zunächst einmal in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab.

Als «Vater des Aquariums» gilt der englische Naturforscher Philip Henry Gosse, der zu Forschungszwecken um 1850 eine erste «marine collection» zusammengestellt hatte, die Berufskollegen aus ganz Grossbritannien anlockte; unter den Interessieren fand sich auch der Evolutionstheoretiker Charles Darwin, der auch später viele Aquarien besuchte, um die Meerestiere darin studieren und beobachten zu können.

Zwar waren Teiche mit Goldfischen oder Karpfen schon seit Jahrhunderten beliebt, doch um Fische studieren zu können, bedurfte es gläserner Behälter. Genau diese konnten nun, im Zuge der Industriellen Revolution, in Massenanfertigung hergestellt werden. Und die Industrielle war auch eine kulturelle Revolution. Die zeitgenössische Literatur spielte der aufblühenden Leidenschaft für das Meer in die Hände. 1851 wurde etwa Melvilles «Moby Dick» veröffentlicht, 1866 Victor Hugos «Les Travailleurs de la mer», zwei Werke, die sich mit dem Meer und seinen Bewohnern befassten.

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  Bild: zVg

Aquarien für zu Hause
Bald schon wollte jeder bei sich zu Hause ein kleines Schaufenster zum Ozean haben und ein Aquarium besitzen. 1855 eröffnete an der Portland Road in London das «Aquarium Warehouse», das erste Aquarien-Fachgeschäft (Bild rechts). Doch aller Anfang war mühselig: In den ersten Jahren musste das Fischwasser in Heim-Aquarien noch alle zwei Tage gewechselt werden, damit die Fische überlebten. Wenig später kam man auf die Idee, das Wasser in den Sauerstoff-Kreislauf einzubinden.

Vom kleinen Heim-Aquarium bis zur riesigen, öffentlichen Unter-Wasser-Vergnügungsanlage war es dann nur noch ein kleiner Schritt. «Grösser, exotischer, exklusiver» lautete die Devise in diesen Jahrzehnten, nicht nur, was den Bau von Aquarien anging. 1876 beispielsweise wurde das «Royal Aquarium Westminster» in London eröffnet, eine 200 Meter lange Flaniermeile in einem Prunkbau an bester Lage. Darin zu sehen waren Fische, Schildkröten und sogar ein Belugawal. An erster Stelle stand nicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Wasserbewohnern, sondern die Unterhaltung, mit riesigen Banketten, Konzerten und Theatern. Das «Aq.», wie es abgekürzt genannt wurde, kann als Sinnbild dieser flüchtigen Begeisterung für das Meer herhalten. Es geriet rasch wieder in Verruf, wurde mehr und mehr zum Treffpunkt zwielichtiger Gestalten und schloss seine Türen schon 1902 wieder.

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 Bild: zVg

Inspiration für Jules Verne
Ganz ähnlich sah die Situation jener Zeit in Frankreich aus. 1867 wurde im Rahmen der Weltausstellung in Paris eine riesige Aquarien-Anlage errichtet, dessen Höhepunkt das Meerwasseraquarium (Bild links) darstellte. Ein «totales Environment», die Besucher traten über eine Treppe ein und standen «auf dem Meeresgrund», während rund um sie herum und über ihnen Fische umherschwammen. Vermutlich war es diese Kulisse, die einen weiteren grossen Schriftsteller seiner Zeit, Jules Verne, auf seine Schilderungen in «20'000 Meilen unter dem Meer» (1874) brachten: «Auf jeder Seite blickte ich durch ein Fenster in unerforschte Abgründe. Das Dunkel im Salon machte die Helle draussen noch lichter, und wir schauten hinaus, als wäre das blanke Glas die Scheibe eines gewaltigen Aquariums.»

Für die nächste Weltausstellung 1878 wurde ein noch grösseres Aquarium gebaut, diesmal mit den Geschichten Vernes als Vorbild. Der Inspirierte wurde zum Inspiratoren. Und 1889 rührten die Pariser gleich noch einmal mit einer grösseren Kelle an, doch das Projekt stand – sinnbildlich für die Flüchtigkeit der Zeit – im Schatten eines ganz anderen Kolosses: Dem Eiffelturm, der an jener Ausstellung eingeweiht wurde.

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  Bild: zVg 

Haeckel und seine Quallen
«Aquaria in Kunst, Literatur & Wissenschaft» gibt nicht nur Auskunft über die Anfangs- und Blütezeit der grossen Aquarien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Buch widmet sich auch eingehend Wissenschaftlern und Künstlern, die sich mit Fischen und anderen Wasserlebewesen beschäftigten. Ein farbenfrohes Kapitel ist einem gewidmet, der sowohl Künstler als auch Wissenschaftler war: Ernst Haeckel (1834-1919).

Der Meeresbiologe machte die Abstammungslehre Darwins im deutschsprachigen Raum populär und beeindruckt bis heute vor allem durch seine sowohl künstlerischen als auch präzisen Zeichnungen von Quallen, Korallen und anderen Meereslebewesen in seinen «Kunstformen der Natur» (Bild rechts). Seine Zeichnungen wären nicht möglich gewesen ohne Aquarien, in denen seine Motive «Modell standen».

Ebenfalls je ein Kapitel widmet die Autorin den beiden befreundeten Künstlern Paul Klee und Alfred Kubin. Beide waren sie der Unterwasserwelt verbunden, besuchten gerne Aquarien und fanden dort Inspiration für ihre Werke, die sie letztlich doch auf so unterschiedliche Weise auf die Leinwand brachten. Die Fische in Klees Bildern, oft gefangen in Formen, in Würfeln und Kreisen, bilden das Unschuldige ab, während Kubins Meeresungeheuer für das Hässliche, das Böse zu stehen scheinen und aus dem Bild ausbrechen wollen.

«Aquaria in Kunst, Literatur & Wissenschaft» ist ein äusserst lehrreiches und gründlich recherchiertes Buch mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, wie die unzähligen Literaturnachweise am Ende jedes Kapitels belegen. Es ist keine vollständige Geschichte der Aquaristik, es ist keine abschliessende Aufzählung aller Künstler und Forscher, die sich mit Aquarien auseinandergesetzt haben, aber es ist ein wertvoller und tiefgründiger Einblick in die Thematik, der – obwohl an ein gebildetes Publikum gerichtet – durchaus auch Laien zu unterhalten vermag. 

Der Film ersetzt das Aquarium
Kaum beleuchtet wird im Buch die Zeit zwischen 1900 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, in der die grossen Aquarien offensichtlich etwas in den Hintergrund gerieten. Die Technisierung schritt weiter voran, mit der Erfindung des Films konnte der Ozean im Kino oder zu Hause in seiner vollen Blüte bestaunt werden, die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung.

Seit den 1990er-Jahren hingegen sind grosse Aquarien wieder im Trend. Die Leute glauben anscheinend nicht mehr alles, was sie im Fernsehen und im Internet sehen, sie wollen die Meerestiere wieder mit eigenen Augen erleben. War damals Jules Vernes Kapitän Nemo die Leitfigur des Trends, ist es heute der gleichnamige Clownfisch aus «Findet Nemo». So wurde rund um die Jahrtausendwende in Barcelona, in Dubai, in Peking, Singapur und Valencia gebaut. Abermals heisst es «grösser, exotischer, exklusiver», und so erstaunt es auch nicht, dass auch in Basel gebaut wird. Und den Kritikern muss abermals widersprochen werden: Das Grossaquarium ist kein Konzept des letzten, sondern des vorletzten Jahrhunderts. Und des aktuellen.

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