Die Reise in die Steinzeit beginnt nach Sonnenuntergang. Die Mauern der mittelalterlichen Festung von Castelo Melhor sind schon angestrahlt. In den Ölbaum-Hainen zu ihren Füssen ist es bereits dunkel. Ana Berliner ist mit ihrem Geländewagen unterwegs in das Tal unterhalb des Burgbergs. In der Dämmerung ist nur das Ginstergestrüpp zwischen Steinmauern zu erkennen. Irgendwann hält die Biologin plötzlich. Zikaden surren. Tief unten in der Talsenke spiegelt sich der noch erhellte Abendhimmel in einem Fluss. «Wären da nicht die Felsbilder», sagt Berliner, «das alles wäre jetzt unter Wasser.»

Das Côa-Tal im Nordosten Portugals gehört zu den wildesten des Landes und birgt seit Abertausenden Jahren ein kleines Geheimnis: mysteriöse Steinritzungen von Hunderten hier längst ausgestorbenen Tieren – Steinböcke, Wildpferde und Auerochsen. Niemand weiss, wie alt sie sind und warum die Menschen der Steinzeit sie hier und in dieser Dichte derart kunstvoll anfertigten.

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Mitte der 1990er-Jahre sollte ein Staudamm die wilden Wasser des Côa nutzbar machen. Die Pläne lagen schon bereit und die ersten Arbeiten hatten begonnen. Ein Archäologe aber machte Wissenschaftler und die Presse auf die wenig bekannten Petroglyphen aufmerksam. Ein französischer Prähistoriker erkannte das Côa-Tal als «die grösste Freiluftstätte mit paläolithischer Kunst in Europa, wenn nicht in der Welt». Mit dem Slogan «Die Felsbilder können nicht schwimmen!» forderten Demonstranten den Baustopp. Am Ende lenkte die Regierung ein.

Durchs Scheinwerferlicht von Ana Berliners Geländewagen huscht ein Fuchs, der nur wenig von ihrem lärmenden Gefährt beeindruckt scheint. Er setzt seine Mäusejagd fort. «Was diesen Ort so besonders macht, ist, dass Natur und Kunst sich hier so nahe sind», sagt Ana Berliner. Als die 47-Jährige den Motor ausschaltet, ist bis auf das nächtliche Zikadenkonzert und das leise Glucksen des Flusses nichts zu hören. Mit der Taschenlampe führt die Biologin ihre Begleiter durch die Dunkelheit. Am westlichen Ufer des Côa türmen sich riesige Granitfelsen. Nichts lässt erahnen, dass sich hier in der Finsternis Portugals ältestes Unesco-Welterbe verbirgt.

Die Rätsel um die Gravuren
Berliner klettert über einige Steinbrocken, dann erleuchtet sie eine Felsplatte. Aus den zunächst unscheinbar wirkenden Einkerbungen und Linien erwacht urplötzlich ein Wildpferd, das in all seiner Schlichtheit mit bemerkenswerter Eleganz im Stein verewigt wurde. Es ist umgeben von Steinböcken, deren Glieder sich mit dem Pferd überschneiden. «Es ist bis heute ein Rätsel, warum die Künstler die Tiere in solcher Dichte festhielten», sagt Berliner. «Platz wäre ringsum mehr als genug gewesen.»

Auf einem anderen Felsen, nicht weit von dem Wildpferd, wird dies besonders deutlich. Wie in Franz Marcs berühmtem Gemälde «Der Turm der blauen Pferde» stapeln sich hier ineinander verankerte Tierleiber. Wie der deutsche Expressionist schienen auch die portugiesischen Altsteinzeit-Künstler ein Interesse zu haben, die Lebendigkeit und Bewegung ihrer Modelle festzuhalten. Auerochsen, Wildpferde und Steinböcke sind von den Toten auferstanden.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, warum die Menschen sie hier hinterliessen. Auch Berliner fragt sich, was sie wohl veranlasst hat, die Tiere immer wieder auf denselben Felsen zu hinterlassen. Vielleicht waren es Jagdskizzen, die Wissen für kommende Generationen weitergeben sollten. Oder sie enthalten geheime Botschaften. Vielleicht war es Kunst um der Kunst willen. Oder die Felsen waren Kultorte, Kulisse für Fruchtbarkeitsriten und schamanische Ekstase. Keine der von Forschern erwogenen Hypothesen kann mit Sicherheit belegt werden. Das genaue Alter ist ebenfalls nicht eindeutig feststellbar. Experten gehen jedoch davon aus, dass einige der Gravuren aus der Altsteinzeit stammen und um die 30'000 Jahre alt sind.

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Auch wenn die Bilder nicht die gleiche Strahlkraft haben wie die bekannteren mehrfarbigen Höhlenmalereien von Altamira im nordostspanischen Kantabrien oder Lascaux in der südwestfranzösischen Dordogne, so geht von ihnen doch ein besondere Magie aus. Wer ihnen plötzlich im Licht der Taschenlampe gegenübersteht, wird unmittelbar in eine Zeit versetzt, in der Wildpferde, Wisente und Auerochsen die Serra bevölkerten und die Wildnis in Europa noch nicht bis auf einen kümmerlichen Rest ausgerottet war.

Der Natur etwas zurückgeben
«Die Bilder haben auch für uns heute eine Botschaft», sagt Aldina Regalo vom Museu do Côa in Vila Nova de Foz Côa. Die 65-Jährige führt nach der pandemiebedingten Schliessung wieder Touristengruppen durch das Museum. Es ist eines der modernsten Portugals und ist ausschliesslich den Steinzeitkünstlern gewidmet. Ihr Erbe wird auf einem Hügel an der Mündung des Côa in den Douro mit architektonischer Wucht und raffinierter Lichttechnik in Szene gesetzt. «Die Menschen des Paläolithikums verstanden sich als Teil der Natur. Sie nahmen sich nur das, was sie zum Überleben brauchten», betont Regalo. Auch wir müssten wieder zu einer Einheit mit der Natur finden.

Für Ana Berliner waren die Felsbilder ebenfalls ein Ansporn, der Natur etwas zurückzugeben, was der Mensch ihr schon vor Langem genommen hat. Als die Biologin 1996 zum ersten Mal ins Côa-Tal kam, um über Gänsegeier zu forschen, entdeckte sie einen in Portugal einzigartigen Rückzugsort für seltene Tiere. Habichtsadler, Schmutzgeier, Schwarzstorch und Fischotter hatten hier einen fast unberührten Lebensraum gefunden. Gemeinsam mit anderen Biologen und Umweltschützern entstand die Idee, Flächen der stark von Landflucht betroffenen Region aufzukaufen und der Natur zu überlassen.

«Es war bei den Kaufverhandlungen sicher hilfreich, dass mein Mann der Neffe des Priesters ist», erzählt Berliner. Auch er ist Biologe und als sie sich kennenlernten forschte er über Schmutzgeier. Heute ist das Faia-Brava-Reservat Portugals grösstes, privat geführtes Schutzgebiet und eines von acht Modellregionen der Initiative «Rewilding Europe». Sie hat sich zum Ziel gesetzt, einige der artenreichsten Naturlandschaften des Kontinents in echte Wildnisgebiete umzuwandeln.

«Zunächst ging es vor allem um seltene Vögel», erklärt Marco Ferraz, «doch bald wurde klar, dass hier ein ganzes Ökosystem erhalten ist, wie man es sonst kaum noch findet.» Der 41-Jährige steht auf einer Anhöhe hoch über dem Oberlauf des Côa und blickt über Macchia-Gestrüpp, wilde Pistazien, Korkeichen und Ölbäume. Unten im Tal bahnt sich das Flüsschen in einer dunklen Schlangenlinie zwischen steilen Klippen seinen Weg durch die Wildnis.

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ReisetippsAnreise: Flug von Zürich nach Porto (easyJet) oder Lissabon (TAP und Swiss) oder mit easyJet von Basel nach Lissabon und weiter mit dem Mietwagen. Ambieduca bietet geführte Touren in das Faia-Brava-Reservat und zu den Felszeichnungen im Côa-Tal an: www.ambieduca.pt

Weitere Informationen auf: www.rewildingeurope.com, www.centerofportugal.com

Mit einem Fernrohr hält er nach seltenen Greifvögeln Ausschau. Sogleich hat er ein paar Gänsegeier entdeckt. «Sie sind hier völlig ungestört, fast überall sonst in Europa sind sie inzwischen ausgerottet.» Ferraz hat seine Karriere als Biotechnologie-Ingenieur aufgegeben, um mehr Zeit in der Natur seiner Heimat zu verbringen. Jetzt führt er Besucher und Schulklassen durch das Reservat. «Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass junge Menschen mehr über die Natur erfahren.»

Heute gehören mehr als 20'000 Hektar entlang der nördlichen spanisch-portugiesischen Grenze zum Netzwerk der Natura-2000-Schutzgebiete der EU. Faia Brava ist mit etwa 1000 Hektar ihr Herzstück.

Ana Berliners Traum, das Côa-Tal in die Wildnis zurückzuverwandeln, wie sie einst vor Jahrtausenden die Steinzeitjäger sahen, ist inzwischen ein ganzes Stück weiter Wirklichkeit geworden. Heute leben wieder etwa 50 Wildpferde in Faia Brava. Die urtümlichen Garranos gehen auf eine autochthone nordportugiesische Rasse zurück. Sie sind in der Lage, auch unter harschen Bedingungen ohne Hilfe des Menschen zu überleben. «Sie wissen auch, sich bei Wolfsangriffen zu verteidigen und ihre Fohlen zu schützen», sagt Berliner.

 

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Hoffnung auf Steinbock-Rückkehr
Neben den Pferden leben wieder Rinderherden wild im Reservat. Die alten iberischen Sayaguesa- und Maronesa-Rassen kommen wie die Garrano-Pferde ganz ohne den Menschen in der Wildnis aus. Mit ihrem bulligen Körperbau und ihren spitzen, nach vorne strebenden Hörnern ähneln sie verblüffend den ausgestorbenen Auerochsen, die die Künstler einst auf den Felsen im Tal verewigten. «Gemeinsam sorgen die Herden dafür, dass das Land nicht verbuscht und offen bleibt – ein natürlicher Lebensraum für viele Arten», erklärt Berliner. Die Naturschützer um Ana Berliner hoffen, dass nach und nach auch durch natürliche Zuwanderung wieder einst hier heimische Arten zurückkehren. Rothirsche, Wölfe und selbst die stark bedrohten Pardelluchse wurden in letzter Zeit im Umkreis des Schutzgebiets nachgewiesen. «Irgendwann könnten wir auch Iberische Steinböcke wieder ansiedeln», sagt Berliner. Die Tiere, die heute nur noch in einigen entlegenen Regionen Spaniens vorkommen, waren bei den Künstlern der Steinzeit ein besonders beliebtes Motiv.

Sollten Sie eines Tages wieder die Klippen über dem Côa erobern, würden sie gewiss auch Wölfe ins Tal locken. Die Geier dürften sich freuen. Und ein alter Kreislauf würde sich schliessen. «Der Mensch hat nur Zukunft, wenn er lernt, dass er Teil der Natur ist», sagt Berliner. Es klingt wie eine Botschaft, wie sie auch die Steinzeit-Künstler des Côa-Tals mit ihren fantastischen Felsbildern der Nachwelt hinterlassen wollten.