Mit etwas Geduld fänden sich bestimmt ein paar Rehe, sagt Patrick Goepfert, Chefgärtner auf dem Basler Friedhof Hörnli, und lädt die Besucherin zu einer «Safari» im Lieferwagen der Stadtgärtnerei ein. Der Friedhof ist weitläufig, mit rund 54 Hektaren Fläche und Zehntausenden von Gräbern der grösste der Schweiz. Es dauert denn auch eine Weile, bis Goepfert seinen Fahrgast anstupsen kann: Tatsächlich, da steht ein Reh, mitten auf einem Grab. Kurz dreht es den Kopf, als das Auto langsam vorbeifährt, dann widmet es sich wieder der Pflanze neben dem Grabstein. Ein paar Kurven weiter, abseits der Gräber, äsen drei Rehe auf einer kleinen Wiese.

Die Rehe vom Friedhof Hörnli in Basel sind schweizweit wohl die berühmtesten ihrer Art. In mehr oder weniger regelmässigen Abständen sorgen sie, weil sie mitunter Grabblumen verspeisen, für ein Rauschen im lokalen Zeitungs-Blätterwald. «Schon seit Jahrzehnten leben hier auf dem Friedhof Rehe, derzeit etwa zwölf Tiere», sagt Goepfert.

Eine «Rehplage»?
Noch nie aber war die mediale Aufregung um sie so gross wie im letzten Winter. Da schafften es die Friedhofs-Rehe aus Basel nicht nur in die nationalen Schlagzeilen, sondern sogar über die Landesgrenzen hinaus in die digitale Weltpresse. Und der Tenor war überall derselbe: Die durch die Rehe angerichteten Schäden seien massiv, der Ärger der Angehörigen von Verstorbenen ebenso, und die Blumenhändler durften zudem über Umsatzeinbussen klagen: Die Friedhofsbesucher würden weniger Schnittblumen kaufen, weil diese von den Rehen innert kürzester Zeit ratzeputz weggefressen würden.

Die Forderung nach Massnahmen gegen die «Rehplage» auf dem Friedhof Hörnli wurde laut und lauter. Was wiederum einen Basler Grossrat dazu bewegte, sich schützend vor die angefeindeten Tiere zu stellen. Via Interpellation richtete er an die Regierung zwanzig Fragen zu den Rehen. Unter anderem wollte er von ihr wissen, wie hoch der Rehbestand auf dem Hörnli überhaupt sei und ob der Friedhof nicht so gestaltet werden könnte, dass Grabpflege und Totenruhe sowie Lebensraum für Wildtiere «harmonisch verbunden werden könnten». Als zwei Monate später die Regierung ihre Antworten präsentierte, waren die Medien offenbar nicht mehr an dem Thema interessiert. Denn sonst hätte die Öffentlichkeit erfahren, dass das «harmonische Nebeneinander von Natur und Bestattungskultur» bereits seit 1925 gilt – als Konzept für die Anlage, mit deren Bau im Jahr darauf begonnen wurde. «Damit wurde implizit die Möglichkeit geschaffen, dass sich Natur und damit auch die Wildtiere im Areal einfinden können», schrieb die Basler Regierung in ihrer Antwort.

Beliebte Grabkerzen
Tatsächlich ist der Friedhof Hörnli voller Leben. Nicht nur Rehe schätzen die grosszügige, hundefreie Parkanlage, auch viele andere Tierarten fühlen sich in diesem Biotop wohl. Goepfert hat sie alle aufgelistet: Nebst den Rehen gibt es Dachse, Füchse, Eichhörnchen, Igel, verschiedene Reptilien und Amphibien, mindestens 15 Vogelarten sowie unzählige Insekten. Und dass den Tieren die für Menschen auf dem Friedhof gültigen Benimmregeln ziemlich schnuppe sind, ist nur natürlich.

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Eine Schlingnatter auf dem Friedhof Hörnli.
Bild: zVg
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Ganz bewusst wird nicht überall gemäht.
Bild: zVg

So ist der nachtaktive Dachs nun mal ein talentierter Baumeister, der sich tagsüber unter der Erde aufhält. Hin und wieder gerate ein Grabstein ins Wanken, erzählt Goepfert, «weil sich ein Dachs untendurch gegraben hat». Auch wenn Dachse hungrig sind, zeigen sie sich wenig zimperlich. Um an Leckerbissen wie etwa Engerlinge heranzukommen, pflügt ein Dachs schon mal eine frisch bepflanzte Grabstätte um. Goepfert und seine Mitarbeiter ersetzen immer wieder von Tieren ausgerissene und abgefressene Pflanzen oder beheben andere Schäden.

Auf Trab gehalten werden sie auch von den Raben. «Um an Würmer und Insekten zu kommen, decken sie beispielsweise im Winter die mit Tannenzweigen geschützten Grabfelder vollständig ab.» Und die schlauen Vögel geben laut Goepfert ihre erworbenen Kenntnisse und Techniken den Nachkommen weiter. Das habe er bei den Grabkerzen, die von einer  Plastikschale umhüllt sind, beobachten können. Die Raben seien ganz versessen auf sie, respektive auf das im Wachs enthaltene natürliche Fett. Mittlerweile wissen die Raben auch, wie sie am besten an diesen «Speck» rankommen. «Sie schnappen sich die Grabkerzen, werfen sie auf die Strasse und wenn die Schale zerbrochen ist, machen sie sich über den Inhalt her.»

Obwohl die Tiere auf dem Friedhof zuweilen Schäden verursachen und, wie Goepfert sagt, «wir alles dafür tun, diese möglichst klein zu halten» – es wird auch einiges unternommen, dass die Anlage auf dem Hörnli den Tieren als Lebensraum erhalten bleibt. Konkret heisst das: Nur gerade ein Drittel der ganzen Fläche wird «streng nach den konventionellen Anforderungen an einen Friedhof gepflegt». Für die restlichen zwei Drittel gilt eine Bewirtschaftung nach naturschützerischen Grundsätzen. Auf regelmässigen Durchgängen gemeinsam mit einem Naturschutzbeauftragten des Kantons überprüfe man das auch laufend, sagt Goepfert.

Wildschweine sind nicht willkommen
Für die Reptilien und Amphibien wurde in Zusammenarbeit mit Pro Natura in einer stillen Ecke des Friedhofs extra ein Biotop inklusive geschützter Durchgänge für die Wanderungen der Kröten und Frösche geschaffen. Bald einmal entdeckten auch die Enten den Teich und nisteten sich dort ein.

Statt akkurat bestückter Blumenrabatten hat es blühende Magerwiesen, auf denen sich im Sommer unzählige Bienen und Schmetterlinge tummeln. Es gibt Wildhecken, Insektenhotels und Nistkästen, und die etwa sechs Hektaren Wald, die ebenfalls zum Friedhof gehören, «werden von uns wie ein Wald bewirtschaftet», sagt Goepfert. Das bedeutet, es wird nur das Allernötigste gemacht, um die Sicherheit für die Besucher zu gewährleisten.

Bis vor etwa fünf Jahren drangen auch immer wieder Wildschweine durch den Wald in den Friedhof und wühlten auf den Gräbern. Ihnen wurde dann allerdings mit einem Elektrozaun der Zutritt verwehrt, die Schäden waren zu gross. Aber sonst lässt man der Natur auf dem Hörnli möglichst viel Raum. Die «grüne Oase Basels» soll eine Oase bleiben. Denn: Trotz Ärger über abgefressene Grabblumen oder unterwühlte Grabsteine – «für den ich übrigens vollstes Verständnis habe», sagt Patrick Goepfert –, die allermeisten Besucher hätten Freude an der Tierwelt auf dem Friedhof. Manche kämen extra wegen der Tiere hierher. «Und für einige ist es sogar tröstlich, zu wissen, dass ihre Liebsten nicht alleine sind.»