Es ist der 12. Dezember 2016 in Tuktoyaktuk, einem kleinem Inuit-Dorf am Arktischen Ozean ganz im Norden Kanadas. Joe Nasogaluak ist alarmiert. Der Inuit-Jäger hat gehört, dass ein Eisbär durch das Dörflein streife. Das Tier hat Fische aus dem Schnee gegraben, welche die Dorfbewohner eigentlich für ihre Schlittenhunde kalt hielten. Nasogaluak holt rasch eine Abschussgenehmigung von den Behörden ein und erlegt den weissen Riesen. Später erzählt der Inuit-Jäger, es sei ein magerer Bär gewesen, aber nicht nahe am Verhungern. 

Was die Menschen in Tuktoyaktuk an jenem Tag aufwühlt, ist der Umstand, dass in diesem Winter schon zum dritten Mal ein Eisbär bei ihren Häusern aufgetaucht ist. Zehn Jahre lang haben sie überhaupt keinen Eisbären in ihrem Dorf gesichtet. Offenbar finden die Tiere das Jahr über auf dem Arktischen Ozean immer weniger Beute, sodass sie sich für eine Fischmahlzeit jetzt auch in die Dörfer wagen.

In anderen arktischen Gegenden ist man an mehr Eisbären gewöhnt. Im Dorf Kaktovik im US-Bundesstaat Alaska etwa halten sich im Herbst bis zu 80 Eisbären auf und fressen übrig gebliebene Walkadaver. Wissenschaftler nennen diese Bären «Klimaflüchtlinge». Nicht von ungefähr, wie Robert Thompson, ein erfahrener einheimischer Bootführer, bestätigt. «Die Bären sind nicht hier, weil wir Wale erlegen», sagt er. «Sie sind hier, weil ihr Lebensraum verschwunden ist. Es gibt mehrere Hundert Meilen offenes Wasser da draus­sen.»

Arktisches Eis hat sich halbiert
Offenes Meer ist nicht das, was Eisbären behagt. Sie benötigen Eis auf dem Polarmeer. Dort warten die weissen Riesen jeweils geduldig vor Atemlöchern, bis Robben auftauchen, die sie töten und dann fressen. Eisbären brauchen das fetthaltige Robbenfleisch, um in der Arktis überleben zu können. Doch je mehr Eis schwindet, umso schwieriger wird es für sie, an ihre Beutetiere zu gelangen. In Kaktovik konnte früher im Sommer das Packeis sogar vom Dorf aus gesehen werden. Heute ist es irgendwo weit, weit draussen – die Distanz ist selbst für starke Schwimmer wie Eisbären zu gross geworden.

Die arktischen Eisflächen haben sich in den vergangenen 40 Jahren halbiert, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts in Hamburg ermittelt haben. Wenn es so weiter gehe, werde in der Arktis im Sommer alles Eis in rund 20 Jahren verschwunden sein, sagt der führende Autor der Studie, Professor Dirk Notz. Schuld daran ist der Mensch: Laut Notz besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausstoss von Treibhausgasen und dem Verlust von Eis auf den arktischen Ozeanen.

Diese Entwicklung ist eines der deutlichsten Zeichen für die Klimaerwärmung. Und sie ist nicht nur für Eisbären eine Katastrophe: Wir-belstürme und Überschwemmungen einerseits, oder extreme Winterkälte in den USA und Europa andererseits, werden mit dem Schwinden der arktischen Eisdecke in Zusammenhang gebracht. Laut der zuständigen amerikanischen Behörde NOAA waren die Lufttemperaturen über der Arktis von Oktober 2015 bis September 2016 bei Weitem die höchsten, seit man im Jahr 1900 mit den Messungen begann. 

Forscher stellen in vielen arktischen Regionen auch fest, dass das Eis im Frühling früher aufbricht und sich im Herbst später bildet. Die Eisbären verlieren dadurch mehrere Wochen, in denen sie bei guten Bedingungen Robben jagen können. 

Die Zahl der Eisbären in den fünf Ländern mit arktischen Regionen – Kanada, USA, Norwegen, Russland, Grönland – wird auf rund 26 000 Tiere geschätzt. So genau weiss es allerdings niemand, denn es ist sehr schwierig, Eisbären in dem riesigen Raum zu zählen, den sie durchwandern. Zudem sind sie kaum vom Untergrund zu unterscheiden, wenn sie auf dem Eis sind. 

Experten unterscheiden zwischen 19 Subpopulationen in unterschiedlichen Gegenden, davon 13 in Kanada. Überraschenderweise geht es aber nicht allen Populationen gleich schlecht. In der Davis-Strait-Region etwa, an der Ostküste von Baffin Island und Labrador auf der Höhe von Grönland, schwindet das Eis zwar auch. Ein Rückgang von arktischem Eis ist aber nicht immer ein unmittelbares Zeichen für den Niedergang von Eisbären. Die Bären in der Davis-Strait-Region gedeihen und vermehren sich, denn es gibt viel mehr Robben für sie als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch dafür liegen die Ursachen beim Menschen: Die Robbenjagd ist stark zurückgegangen, weil die Europäische Union und die USA ein Importverbot für Robbenprodukte erlassen haben.

Als Folge dieser Entwicklung sichten die Bewohner im Norden der ostkanadischen Insel Neufundland im Frühling neuerdings immer wieder Eisbären aus der Davis-Strait-Region. Die weissen Raubtiere folgen den Robben übers Eis Richtung Süden und wandern dann wieder Richtung Labrador und Baffin Island nach Norden zurück. Diese Eisbären sehen gesund aus und haben offensichtlich genügend Nahrung – trotzdem brechen auch sie manchmal in den Dörfern in Hühnerställe ein oder strecken sogar den Kopf in Küchen.

Eisbären-Safari in Churchill
Auch in Kanada sehen allerdings die meisten Menschen nie einen Eisbären, ausser im Zoo. Wer es sich leisten kann, reist nach Churchill in der Provinz Manitoba, um Eisbären von gepanzerten Fahrzeugen aus zu beobachten («Tierwelt Online» berichtete). Das Dorf liegt an der Hudson-Bucht im Mündungsgebiet des Churchill-Flusses. Im November 2016 waren in der Hudson-Bay-Gegend manche Wasserflächen immer noch nicht gefroren, was ungewöhnlich ist. In dieser nordkanadischen Region jagen die Eisbären im Winter und in einem Teil des Sommers Robben. Wenn das Eis schmilzt, wandern sie an Land, wo sie etwa vier Monate bleiben und von ihren Fettreserven zehren, bis sie wieder aufs Eis können. Deshalb sieht man oft Bilder von Eisbären in Churchill mit wilden Blumen im Vordergrund. Die Bären haben vom Landaufenthalt auch ein schmutziges, statt ein gelblich weisses Fell. Wenn sich das Eis später als gewohnt bildet, verlieren die Eisbären, die über 500 Kilogramm schwer werden können, zu viel Körpergewicht.

Trotzdem hat sich die Zahl der Eisbären dort stabilisiert. Von 1984 bis 2004 ging die Hud-son-Bay-Population von 1194 auf 935 Tiere zurück. Wissenschaftler erwarteten damals, dass sich dieser Trend fortsetzen werde. Aber heute gibt es in der Hudson-Bay-Gegend rund 1200 Eisbären. Das heisst aber nicht, dass die Aussichten für diese Bären gut sind. Denn Forscher haben festgestellt, dass auch hier die Tiere weniger Junge gebären und dünner sind als früher. 

Keine allgemeine Prognose 
Es gibt allerdings auch Gegenden in der Arktis, in denen das Eis im Sommer jedes Jahr schmilzt und die Bären stets an Land gehen und Vögel und Eier und Kadaver fressen. Dieses grosse Spektrum an Lebensräumen und Lebensgewohnheiten macht es nicht einfach, eine allgemeine Prognose für die Zukunft des Eisbären zu stellen. «Zum jetzigen Zeitpunkt hat das schwindende Eis in manchen Regionen negative Auswirkungen, in anderen aber  nicht», erklärte Eric Regehr, ein Biologe und Eisbärenforscher für den U.S. Fish and Wildlife Service in Alaska. «Und an vielen Orten wissen wir es einfach nicht, weil wir nicht genügend Informationen haben.» 

Insgesamt gehen Forscher davon aus, dass die weltweite Eisbärenpopulation relativ stabil geblieben ist. Aber in Gegenden wie der südlichen Beaufort-See (sie ist Teil des Arktischen Ozeans) ist die Zahl deutlich zurückgegangen – in den vergangenen zehn Jahren von 1500 auf geschätzte 900 Bären. Gleichzeitig hat sich hier die Körperverfassung der Tiere deutlich verschlechtert. Falls das Tauwetter in der Arktis anhält, hat der König des Eises definitiv ungemütliche Zeiten vor sich.