Der Mäusebussard will nicht so recht. Skeptisch schaut das Weibchen zu Andi Lischke hoch, versucht auch mal zu beissen. Es muss in die Physiotherapie. «Dieser Bussard kam mit einem Unterarmbruch zu uns», erklärt Lischke. Damit die Greifvogel-Dame möglichst bald wieder in die Freiheit fliegen kann, muss ihre Sehne dehnbar gehalten werden. Behutsam hält Lischke den verletzten Flügel fest, streckt ihn aus, massiert die Sehne.

Seit 2012 leitet der 56-Jährige die Greifvogelstation Berg am Irchel ZH. Die 1956 im Haus und Garten der Gründerin Veronika von Stockar ins Leben gerufene Institution behandelt und pflegt kranke und verunfallte Greifvögel und Eulen. Sind die Vögel wieder gesund, werden sie freigelassen. Noch heute befindet sich die Station am gleichen Ort, mitten in dem malerischen Dorf mit seinen alten Riegelhäusern im Zürcher Weinland. Sie wird seit 2008 von der Stiftung Paneco geführt und arbeitet rein spendenfinanziert.

Vom Messdiener zum Vogelzüchter
Die mit Abstand meisten von Lischkes Patienten sind Mäusebussarde. Auch Turmfalken, Waldkäuze, Rotmilane und Sperber gehören zu den häufigen Pflegefällen. Geheilt werden vor allem Knochenbrüche, Schädeltraumata und Prellungen. Ausserdem werden hier aus dem Nest gefallene Jungvögel und hungerleidende Tiere aufgepäppelt. Dies vor allem im Winter. «Wenn Schnee liegt, dauert es drei Tage und wir haben hier bis zu vierzig Vögel», sagt Lischke. Die meisten werden nach zwei bis drei Wochen wieder entlassen. 

Dass Lischke eine Karriere als Vogelretter einschlagen würde, hätte er sich einst nicht träumen lassen. Als Kind hatte der gebürtige Deutsche nämlich Angst vor allen grösseren Tieren. «Ich liebte Tiere, aber nur solche in Büchern», erinnert er sich. Sein Interesse galt damals der Kirche. Sie war für ihn, der als Sohn eines Sozialarbeiters mit seinen Eltern und vier Geschwistern in der Heimleiterwohnung eines Waisenhauses lebte, ein Rückzugsort: «Ich bin ein Mensch, der Ruhe braucht.» 

Jeden Morgen vor der Schule half er als Messdiener im Kloster des Dorfes Tholey im Saarland, in dem er aufwuchs. Eigentlich hätte Lischke auch Priester werden können – bis bei ihm im Alter von 13 oder 14 Jahren «der Verstand einsetzte», wie er lachend sagt. Auch im Kloster gab es Intrigen, manchmal gar Prügeleien. Ihm sei damals klar geworden, dass Mönche auch nur Menschen seien und keine Heiligen. 

Vor Tieren hatte er inzwischen keine Angst mehr. Mit einem Schulfreund streifte er durch die Natur, zog heimlich Stare, Spatzen und andere Vögel auf. Seine ersten eigenen Tiere waren Stockenten. «Ich wollte immer nur einheimische Tiere pflegen», sagt er. Bald züchtete Lischke erfolgreich Geflügel. 1984 stiess er auf den Verein deutscher Waldvogelpfleger, der sich der Zucht und Haltung heimischer Vögel verschrieben hat. Lischke fing Feuer und wurde zu einem europaweit bekannten Züchter Dutzender Vogelarten. Eines Tages bekam er die Möglichkeit, den Mauerläufer zu halten – «meinen Traumvogel». Dafür baute er in seinem Garten die Alpen nach. 120 Tonnen Naturstein schaffte er herbei. In der naturgetreuen Voliere gab es sogar einen Wasserfall. Zehn Jahre dauerte der Bau. Besucher aus ganz Europa reisten an, um die Anlage zu bestaunen. Sogar Zoos holten sich bei ihm Tipps, zum Beispiel zur Fütterung ihrer Vögel.

Sein grosses Wissen und seine Erfahrung in der Vogelhaltung waren es auch, die Lischke 2010 die Anfrage aus der Schweiz einbrachten, erst als Mitarbeiter, dann als Leiter der Greifvogelstation. Als solcher hat er die Pflegeboxen und -volieren modernisiert und erneuert. Er sorgte dafür, das die neuen Volieren mit Holzwänden ausgestattet wurden, damit die aufgeschreckten Tiere sich nicht am Maschendraht verletzen. Lischke demonstriert dies an einem Sperber, der vorübergehend eine solche Voliere bewohnt. Als der Stationsleiter die Tür öffnet, fliegt der Vogel erschreckt auf und flattert wild, beinahe kopflos umher, bis er sich schliesslich beruhigt. «Unsere Vögel sind Wildtiere», sagt Lischke. «Sie haben Angst vor Menschen.»

Gesund werden oder einschläfern
Lischkes Massnahmen, fachkundige Betreuung durch Zivildienstleistende und Freiwillige sowie die enge Zusammenarbeit mit dem Zürcher Tierspital und dem Tierrettungsdienst wirkten sich auf den Pflegeerfolg aus. Die Greifvogelstation gehört zur internationalen Spitze: 80 Prozent der in Berg am Irchel behandelten Greifvögel und Eulen werden wieder gesund und können weiterfliegen.

So auch die Nachbarin des Sperbers, eine Waldohreule. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung. «Ihr rechtes Auge war ebenso stark betroffen», sagt Lischke. «Die Linse ist verrutscht und jetzt sieht sie nicht mehr scharf.» Da sich bei Eulen jedoch die Augen vorne am Kopf befinden, können sie auch mit einem Auge noch ausreichend gut fliegen. Bei den tagaktiven Greifvögeln ist das anders: Bei ihnen sitzen die Augen seitlich. Mit nur einem funktionierenden Auge können sie weder sicher fliegen noch gezielt Beute schlagen. 

Solche Tiere kann Lischke nicht mehr auswildern. «Ich muss sie einschläfern», sagt er. Sie unter Menschenobhut weiterleben zu lassen, käme für ihn nicht in Frage. «Es gibt in Gefangenschaft kein würdiges Leben für ein Wildtier, das in der Natur aufgewachsen ist. Es wäre für das Tier eine fürchterliche Qual und wir haben kein Recht, ihm dies anzutun.» Diese Position vertritt er vehement, auch wenn er dafür manchmal angegriffen wird und erboste E-Mails erhält. Wenn er einen Vogel einschläfern müsse, gehe in ihm das Gleiche vor, wie wenn er ihn freilasse: «Ich weiss, auch wenn ich ihn nicht heilen konnte, habe ich ihm dennoch geholfen und ihm seine Schmerzen genommen.»

Auch in den Ferien für die Vögel da
Seit acht Jahren lebt Lischke in Berg am Irchel. Nicht nur sein Arbeitsplatz, sondern auch seine Wohnung ist voller Vögel. Lischke sammelt handgemalte Lithografien und antike Vogelbücher. «Mein ältestes ist aus dem Jahr 1653», erzählt er begeistert. Lebendige Vögel gibt es in der Wohnung auch – zwei winzige Moskitokolibris. Für eine grosse Aussenvoliere fehlt der Platz. 

Für seine Schützlinge auf der Station ist Lischke rund um die Uhr da, nur einmal im Jahr gönnt sich der Vater zweier Töchter ein paar Wochen Ferien auf Sardinien, wo er die Ruhe findet, die er so braucht. Aber auch dort empfängt er noch Anrufe wegen kranken Greifvögeln. Für ihn eine Selbstverständlichkeit: «99 Prozent unserer Patienten wurden direkt oder indirekt durch den Menschen geschädigt», sagt er. «Sie haben ein Recht darauf, dass der Mensch diesen Schaden wiedergutmacht und ihnen hilft.» Andi Lischke ist mehr als Pfleger, Halter und Züchter von Vögeln – er ist ihr Freund. 

Notfallnummer für verletzte Greifvögel: 052 318 14 27
www.greifvogelstation.ch
www.paneco.ch