Morgens neun Uhr. Es ist kühl an diesem Spätherbsttag, der Himmel ist bedeckt. Der Wetterbericht hat Regen vorausgesagt. Auf einer Waldlichtung im Aargauer Dorf Kölliken hat sich eine Gruppe versammelt: 24 Männer, eine Frau und drei Jagd- und Schweisshunde. Es handelt sich dabei um die Jagdgesellschaft Kölliken West mitsamt geladenen Gastjägern. Heute ist eine Treib- oder auch Bewegungsjagd angesagt. Die meisten tragen wetterfeste grün-braune Kleidung und einen Hut mit einem orangen Signalband; hinten angehängt eine Schrotflinte, vorne hängt bei einigen ein altertümliches Jagdhorn. Einige haben eine orange Weste übergezogen: Das sind die sogenannten Treiber. Auch ich muss diese Warnkleidung aus Sicherheitsgründen anziehen. 

Der Kanton Aargau hat vorgegeben, dass 2014 in diesem Revier 19 Rehe erlegt werden müssen – zu diesem Zeitpunkt ist der Stand der geschossenen Rehe erst bei 12; bei den verbleibenden Jagdtagen bis Ende Jahr sind also noch sieben zu finden. An diesem Jagdtag werden gesamthaft vier «Triebe» oder mit anderen Worten Bewegungsjagden durchgeführt. Bei seiner kurzen Ansprache gibt Jagdleiter Paul Antenen noch mal die wichtigsten Infos durch, beispielsweise dass die Sicherheit oberstes Gebot ist. «Ihr habt eine Waffe in der Hand und wisst, dass ihr damit verantwortungsvoll umgehen müsst. Geschossen wird nur, wenn das Wild nicht mehr als 30 Meter entfernt ist», schärft er ein. Dann geht es los, die Jagdteilnehmer teilen sich in Gruppen auf und rufen sich noch ein «Waidmannsheil» zu.

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 Die Treiber tragen Warnwesten und haben Schweisshunde dabei.
 Bild: Jonas Baud

Disziplin ist wichtig
Antenen führt eine Gruppe Jäger an, es geht über Stock und Stein und durch schlammige Waldweglein den Hang hinauf zu einem breiteren Waldweg. Immer wieder bleibt die Gruppe stehen und einer der Jäger wird von Antenen einem Posten zugewiesen; dies wird auf Jägerlatein «anstellen» genannt. Dabei ist Disziplin gefordert: «Es liegt nicht drin, dass er den Ort verlässt. Wenn einer sich nicht daran hält, schicke ich ihn nach Hause.» Am Schluss bleibt nur noch Antenen übrig. Er klappt sein einbeiniges Jägerstühlchen auf, sitzt ab und bringt sich in Stellung. Es ertönen allenthalben Horntöne, auch Antenen setzt sein Horn an die Lippen und quittiert. Mit diesem «Anhornen» hat der erste Trieb begonnen, erst jetzt darf geschossen werden. Dem Jäger bleibt nur abzuwarten und wachsam zu sein. 

Bei der Treibjagd geht es darum, das Wild durch die Treiber und Fährtenhunde gezielt aus ihren Verstecken zu scheuchen und den Jägern vor die Flinte zu treiben. Diese Form der Jagd wird im Gegensatz zur Einzeljagd im Herbst und im Winter durchgeführt. Der Bestand des Wildes muss jedes Jahr reduziert werden, damit er gesund bleibt. Und auch, damit die nachwachsenden Jungbäume nicht zu sehr unter dem Abnagen ihrer Äste leiden müssen. Ausserdem haben Rehe keine natürlichen Feinde und sollen sich nicht zu sehr vermehren. 

Die Treibjagd kommt aber nicht überall gut an: Im Kanton Aargau wurde gar vor einigen Jahren eine Initiative ergriffen dagegen, da viele Tierschützer die Treibjagd für Tierquälerei halten. Jagdleiter Antenen hält dagegen: «Der Respekt vor den Tieren ist sehr wichtig. Jedes Reh soll auch die Chance haben, bei einer Treibjagd zu entkommen.» Aber wenn das Wild in die richtige Schussdistanz komme, dann solle geschossen werden. «Bei der Bewegungsjagd wird nur mit Schrot geschossen», ergänzt er. Fehlschüsse kämen natürlich auch vor. Und wenn das Wild zwar verletzt ist, aber trotzdem noch flüchten kann, muss eine Nachsuche durchgeführt werden mit den Schweisshunden (Schweiss bezeichnet das austretende Blut des Wildes), um das Tier zu finden und es von seinem Leid zu erlösen. 

Unten im Wald hört man die Treiber, wie sie laut rufen und «holleien», auch die Hunde bellen – mit diesen Geräuschen soll das Wild aus den Verstecken getrieben werden. Doch es passiert nichts. Nach rund 40 Minuten wird wieder abgehornt. «Jetzt darf niemand mehr schiessen, nur wenn er eine sehr gute Erklärung dafür hat», sagt Antenen, der früher Stadtförster von Aarau war und seit 35 Jahren jagt. «Disziplin und Ordnung ist bei der Jagd essenziell, ohne geht es einfach nicht, sonst wird es gefährlich.» 

Beim zweiten Trieb schliesse ich mich den Treibern an. Es geht den Hang hinunter durch unwegsames Unterholz und äusserst dicht bewachsene Tannenhaine. Die  Stolpergefahr ist gross und man muss sich mit den Armen gegen wehrhafte Zweige durchsetzen, die sonst das Gesicht zerkratzen würden. Die fünf Treiber machen Lärm. Doch es nützt alles nichts: Kein Wild ist in Sicht, auch diesmal kein Erfolgserlebnis für die Jäger. Doch immerhin ist es nun Mittag und damit Zeit für den Zwischenaser oder übersetzt die Zwischenverpflegung. Die Gesellschaft kann sich stärken mit einer heissen Bouillon und frischem Brot.  

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 Letzte Ehre für das einzige geschossene Reh des Tages.
 Bild: Jonas Baud

Die Ausbeute ist klein
Beim dritten Trieb bin ich dann mit Heinz Hulliger unterwegs: Er ist einer der Pächter und auch Wildhüter des Kölliker Waldstücks, in dem gejagt wird, ausserdem seit Jahrzehnten passionierter Jäger. «Ich mag dabei vor allem, dass man draussen in der Natur sein kann», sagt der gebürtige Emmentaler. Hulliger findet es schön, gemeinschaftlich ein Ziel zu erreichen. «Wenn ich mit Kritikern spreche, lade ich sie jeweils zu einem Jagdtag ein, damit sie sich selber mal ein Bild machen können.» Dann ist es plötzlich so weit. 13 Uhr. Ein Schuss ist losgegangen, kurz darauf ertönt ein Horn. Hulliger lächelt und sagt: «Endlich wurde ein Tier erlegt», sagt er. Es wird aber die einzige Beute des Jagdtages bleiben – danach passiert nichts mehr.

Um etwa um 15 Uhr ist es Zeit für den Aser, die wohlverdiente Hauptverpflegung. Auf einer kleinen runden Waldwiese hat Pächter Geri Meier bereits ein prächtiges Feuer in Gang gesetzt. Das erlegte Reh wird an einem Haken aufgehängt und von Gruppenmitglied Peter Egger fachgerecht «zerwirkt», also ausgenommen. Eine Prozedur, die nichts für zarte Seelen ist – es ist eine blutige Sache, auch der Anblick der Innereien ist nicht gerade «anmächelig». Das müsse sofort gemacht werden, sagt Egger, denn der Verwesungsprozess setze sehr schnell ein. Das Wild wird später von ihm in Stücke zerlegt. 

Aber erst wird das Reh als «letzte Ehre» auf ein Tannenzweig-Bett gelegt, man hat ihm in den Äser (das Maul) ein Ästlein gelegt. Die Gruppe versammelt sich rundherum. Jagdleiter Paul Antenen bedankt sich für den Einsatz. Er fügt hinzu: «Zum Glück war auch Petrus auf unserer Seite.» In der Tat: Vom angekündigten Regen war nichts zu sehen. Und dann geben noch die Bläser eine kleine Kostprobe ihres musikalischen Könnens. 

Nach dieser feierlichen Vorstellung packen die anderen Teilnehmer ihr mitgebrachtes Fleisch aus und legen es auf den Grill. «Das Pflegen der Kameradschaft und der gesellschaftliche Aspekt ist sehr wichtig für uns», sagt Antenen. Es verbreitet sich eine gemütliche Atmosphäre. Es dunkelt langsam ein, nur noch das Feuer erleuchtet die trotz der bescheidenen Beute zufriedenen Gesichter. Bis Ende Jahr werden dann noch drei bis vier weitere Bewegungsjagden organisiert; schliesslich muss die Quote erfüllt werden.

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Die Jäger zeigen sich mit ihren Hörner von ihrer musikalischen Seite. Bild: Jonas Baud