Des einen Freud ist des andern Leid. Während den mittlerweile zahlreichen Lockdowns in vielen Ländern schien die Natur aufatmen zu können. Forschende sprachen schon von einem neuen Begriff für diese Zeit: der «Anthropause» («Tierwelt online» berichtete). Auf der schwedischen Insel Stora Karlsö jedoch traf dies nicht auf alle zu.

Stora Karlsö liegt vor der Westküste Gotlands in der Ostsee. Die kleine Insel ist eins der ältesten Naturschutzgebiete der Welt und steht seit den 1880er-Jahren unter Schutz. Bekannt ist sie für die grösste und meist besuchte Kolonie von Trottellummen in der Ostsee, die von einem Team von vier Forschern um Jonas Hentati-Sundberg von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften schon seit Jahrzehnten untersucht wird. Das Jahr 2020 stellte in diesem Langzeitmonitoring eine einzigartige Gelegenheit dar. Die Forscher konnten nun quantifizieren, wie sich die Abwesenheit von Menschen auf die Brutkolonie auswirkte und stellten fest: nicht so gut.

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Seeadler scheuchen Lummen auf
Denn ohne Touristinnen und Touristen auf der Insel trauten sich Seeadler wieder näher heran. Die Greifvögel reagieren auf Menschen sehr empfindlich und suchen ihre Nähe nicht. Wie im Videos der Forscher zeigen, reicht ein einziger jagender Seeadler, um Hunderte von Lummen von ihren Nistplätzen auf den Klippen aufzuscheuchen. Während von 2010 bis 2019 null bis sieben Seeadler pro Monat gesichtet wurden, waren es 2020 11 bis 33, schreiben die Forscher im Fachblatt «Biological Conversation». 2020 beobachteten sie auch zum ersten Mal, wie die Adler die Trottellummen auf den Klippen oder im Wasser direkt angriffen.

Diese Angriffe waren aber nicht erfolgreich. Die Forscher fanden keine Hinweise auf von Adlern geschlagene Trottellummen. Es sei auch nicht die direkte Prädation, die den Lummen am meisten zu schaffen mache. Vielmehr führten die vielen Störungen dazu, dass die Lummen gezwungen waren zu flüchten und ihre Eier unbeaufsichtigt zu lassen. Davon wiederum profitierten Silbermöwen und Nebelkrähen, die sich über die Eier hermachten. Des einen Freud ist, wie gesagt, des andern Leid.

Aufnahmen von Hentati-Sundbeg und Team zeigen, wie ein Seeadler die Trottellummen in Aufruhr bringt

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Erstes Jahr mit vielen Fehlbruten
Alles in allem sei der Bruterfolg der Kolonie 2020 um 26 Prozent tiefer gewesen als der Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2019. Es gab weniger Brutversuche (6,8 Prozent) und weniger geschlüpfte Junge (21 Prozent). Gewisse Subkolonien auf Stora Karlsö hatten überhaupt gar keine erfolgreiche Brut. «Die hier untersuchte Population von Trottellummen wuchs seit den 1970ern rasch an. Dies ist die erste Saison mit solch umfassenden Fehlbruten, seit wir 1997 unsere Feldarbeit aufnahmen», so die Forscher.

Die Seeadler selbst wurden vor Jahrzehnten aufgrund des Insektizids DDT fast ausgerottet. Ihr Comeback nach dem Verbot von DDT und die damit einhergehenden Konsequenzen für Seevogelkolonien sei «ein bekanntes Naturschutz-Dilemma». Es bleibe nun abzuwarten, ob die Rückkehr der Touristinnen und Touristen auf die Insel die Trottellummen-Kolonie in ihren «normalen» Zustand zurückversetzen oder ob die Anthropause das Verhalten der Adler permanent beeinflussen wird.

Gemäss Modellberechnungen müssen 40 Prozent der Trottellummen jährlich ein Küken durchbringen, damit die Population sich halten kann. Sollten sich die Adler als bleibende Bedrohung herausstellen, schlagen die Forscher vor, Touristen gezielt als «Wächter» für Seevogelkolonien einzusetzen.