Dorivaldo Alwis kennt das Felsental seit seiner Kindheit. Er begleitete als Bube seinen Vater auf Jagdzügen durch die Caatinga, die eigentümliche Dornensteppe, die grosse Landstriche Brasiliens überzieht. Das Leben im trockenen Nordosten des Landes war hart, das Dorf Canudos eine verlorene Siedlung mitten im Nirgendwo. Alwis erinnert sich noch genau. Er sei damals etwa 15 Jahre alt gewesen, als im Dezember 1978 ein fremder Mann aufkreuzte: Helmut Sick aus Deutschland. Der Ornithologe war auf der Suche nach dem legendären Lear-Ara, und Dorivaldos Vater führte ihn in das Felsental, wo zahlreiche dieser seltenen Aras nisten. Ein historisches Ereignis sondergleichen, das seither in allen Papageienbüchern festgehalten ist.

Alwis, ein Lächeln auf dem bräunlichen Gesicht, Dächlikappe, filigrane Brille, sitzt am Abend auf einer roten Felsenplatte, ein angenehmer Wind säuselt um seinen Kopf. Schreie der Lear-Aras tönen durch das unter ihm liegende Felsental, das zuhinterst ein Tobel bildet, wo sich der Felsen schwärzlich färbt, weil Wasser herunterträufelt. Auf der anderen Seite streift eine Herde weisser Ziegen wie Gämsen dem Abhang entlang, unterhalb krallen sich silbern glitzernde Tillandsien an den Felsen. Diese Aufsitzerpflanzen ernähren sich über ihre lanzenähnlichen Blätter von der Luftfeuchtigkeit, die jetzt gegen den Abend hin steigt, wenn die Sonne langsam im Westen sinkt.

Plötzlich gellende Schreie auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht. «Blaustirnamazonen», sagt Alwis und zeigt zum Horizont. Dort blitzen rote Flügelspiegel von drei korpulent wirkenden Vögeln auf, die im Abendlicht mit raschen Flügelschlägen am Horizont verschwinden. Alwis erklärt, dass sie im Gebiet in Felsenhöhlen nisten. «Sie finden in der Caatinga keine Baumhöhlen, doch im porösen Gestein der zerklüfteten Landschaft hat es viele Felsenhöhlen.» 

Canudos ist heute eine Stadt mit etwa 20 000 Einwohnern geworden. Wie in der Schweiz in Bergtälern wollen auch junge Brasilianer kaum noch in der Wildnis als Bauern wohnen. Die alten Leute sind dort zurückgeblieben, jüngere leben in Städten wie Canudos, wo auch Dorivaldo Alwis mit seiner Familie wohnt. Anders als sein Vater, der Bauer war und gelegentlich Aras für den Verzehr abschoss, um den kärglichen Menüplan aufzubessern, führt er Touristen zum Felsental mit den Lear-Aras und Blaustirnamazonen.

Variabler Lebensraum
Gemäss der brasilianischen Agronomin Kilma Manso nisten Blaustirnamazonen in vielen Gebieten in den rötlichen Felsen, beispielsweise auch bei der Barreirinha bei Agua Branca, einem Talkessel, umgeben von porösen rötlichen Felsen. Das Verbreitungsgebiet der Blaustirnamazonen ist riesig. Es erstreckt sich über weite Teile Brasiliens bis nach Paraguay, Bolivien und Nord-Argentinien. Entsprechend vielfältig sind auch die Lebensräume. Die Caatinga ist der trockenste. Regen gibt es nur spärlich im Winter, manchmal fällt er ganz aus. Die Vegetation ist darauf eingestellt, wird grün in der Regenzeit, dürr während den heissen Monaten.

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Das Holz blitzt dann weiss in der Sonne, denn die Sträucher haben das Laub abgeworfen. «Weisser Wald» bedeutet das Wort Caatinga denn auch in der Sprache der Volksgruppe namens Tupi. Die Caatinga läuft in den Cerrado über, eine halbtrockene Vegetationsform, die grössere Flächen Brasiliens einnimmt als der tropische Regenwald. Blaustirnamazonen leben aber auch im subtropischen Regenwald in der argentinischen Provinz Misiones rund um die Iguaçu-Wasserfälle, in einer dichten Vegetation mit kapitalen Urwaldbäumen also.

Entsprechend der grossen Verbreitung der Art sind die Blaustirnamazonen auch verschieden gefärbt. Die Variabilität ist beeindruckend. Es werden zwei Unterarten unterschieden: Die Nominatform und die Gelbbug- oder Bahia-Blaustirnamazone, die einen gelben Flügelbug hat, während er bei der Nominatform rot ist.

Höchst unterschiedlich ist auch die Ausdehnung des blauen Gefieders am Kopf. Es gibt Exemplare, die haben schier einen blauen Kopf, bei anderen ist die blaue Stirne nur mit wenigen Federchen angedeutet. Kein Vogel ist gleich gefärbt wie der andere. Alle aber haben einen voll schwarzen Schnabel.

Früchte und Gemüse füttern
Blaustirnamazonen wurden einst in grosser Anzahl gefangen und nach Europa eingeführt. Diese Zeiten sind lange vorbei. Seit vielen Jahren werden Blaustirnamazonen nachgezogen. Schon 1886 soll in Frankreich in einem Käfig die Welterstzucht gelungen sein. Damals setzte man Vögel auf gut Glück zusammen, da sie äusserlich keine Geschlechtsunterschiede zeigen, heute kann sie ein Tierarzt endoskopieren, oder es können Federn zur DNA-Analyse gesandt werden, um ein sicheres Paar zusammenzustellen. 

Blaustirnamazonen sollten am besten paarweise in Volieren gehalten werden. Oft gibt es unbefruchtete Gelege, was meist auf ein Ernährungsproblem hinweist. Erhalten Blaustirnamazonen unter Menschenobhut ein Körnergemisch, das zum grössten Teil aus Sonnenblumenkernen besteht, verfetten sie rasch, anders als Graupapageien, die einen wesentlich höheren Energiebedarf haben. Die Hälfte des Futters sollte aus Früchten und Gemüse bestehen.

Vom Frühling an sollte Keimfutter gereicht werden. Zudem ergänzt ein Samengemisch für Amazonen, das nur wenige Sonnenblumenkerne enthalten sollte, die Nahrung. Mineralstoffe und Kalzium müssen stets zur Verfügung stehen. Manchmal sind Paarpartner auch nicht synchron, was in unbefruchteten Gelegen resultiert. Wird im Nistkasten viel morsches Holz deponiert, eventuell gar der Eingang mit Tannenbrettern verkleinert, sodass sie ihn benagen müssen, hilft das, beide Elterntiere zu stimulieren. 

Normalerweise werden drei bis vier Eier gelegt, die 25 bis 28 Tage bebrütet werden. Die Nestlingszeit beträgt rund acht Wochen. Wenn die Eltern Junge zu versorgen haben, müssen sie bis zu dreimal täglich gefüttert werden. Hüttenkäse ist gerade in der Anfangsphase willkommen und versorgt die Jungen mit Kalzium. 

Blaustirnamazonen sind, wie alle Amazonen, laute Papageien. Ein Paar in einer Zimmervoliere im Wohnbereich wird darum unwillkürlich den Unmut der Nachbarn wecken. Einstmals zahme Blaustirnamazonen entwickeln sich zu höchst aggressiven, dominanten Vögeln, wenn sie geschlechtsreif werden und sich ihrem Partner zuwenden. Dies ist ein normales Verhalten. Darum ist es auch besser, wenn diese faszinierenden, wunderschönen Papageien paarweise in einer Voliere gehalten werden. Die Einzelhaltung ist in der Schweiz nicht erlaubt. In den Weiten Brasiliens schallen Blaustirnamazonen-Schreie, und in der Schweiz besteht dank Züchtern seit Jahrzehnten eine Volierenpopulation dieser Charaktervögel.