Luca Filigheddu hält nach Delfinen Ausschau, den Blick auf die korsische Küste gerichtet, ins möwendurchsegelte Blau. Der sardische Bootsführer ist am Morgen von der Nordküste Sardiniens aufgebrochen. Von einem cyanblauen Himmel strahlt die Sonne. Das Motorboot des 65-Jährigen zieht einen weissen Streifen ins Aquamarin. In der Ferne verlieren sich in der glitzernden Strasse von Bonifacio eine Reihe an felsigen Inselchen. Wie der knöcherne Panzer eines gigantischen Urkrokodils ragen die Granithügel des Lavezzi-Archipels aus der Meeresstrasse auf. Sie sind gemeinsam mit dem sardischen
La-Maddalena-Nationalpark Teil eines län­der­übergreifenden Meeresschutzgebiets.

Filigheddu lässt den Blick immer wieder in die Ferne schweifen, doch die Meeressäuger wollen sich an diesem Tag nicht blicken lassen. Das Meeresreservat ist mit seinen Felseninselchen und versteckten Buchten aber auch ein wichtiger Nistplatz für Seevögel. Hier kann man Sepia- und Mittelmeer-Sturmtaucher, Krähenscharben und Korallenmöwen beobachten. Manchmal lassen sich auch Sturmschwalben blicken.

Mit etwas Glück schliessen sich Grosse Tümmler den Bootsausflüglern an. Nur im Hochsommer, wenn die Touristen mit ihren Heerscharen an Jachten und Motorbooten einfallen, verziehen sie sich hinaus aufs offene Meer. «Auch den Meeresschildkröten herrscht hier zu viel Trubel», sagt der Bootsführer, «die bevorzugen die Westküste.»

Als Erstes steuert Filigheddu die flache Île Piana an. Sie ist direkt der Hauptinsel Korsika vorgelagert. Zwar fehlen ihr die spektakulären Granitfelsen ihrer Nachbarinseln, das Meer vor ihrem feinen Sandstrand leuchtet jedoch in einem karibischen Samaragdgrün, dass selbst Wasserscheue einem Schnorchel­ausflug nur schwer widerstehen können. Im klaren Meer umschwärmen Hunderte glitzernde Brandbrassen die Touristen. 

Ein Stück Seychellen im Mittelmeer
Taucher können auf dem Archipel einige der spektakulärsten Spots des Mittelmeers erkunden. In der City of Groupers sind sie von mächtigen, manchmal über einen Meter langen Braunen Zackenbarschen umgeben. Oft gesellen sich auch Meerraben, Zahnbrassen und Laxierfische zu ihnen. Ein Unterwasserausflug lohnt sich aber allein schon wegen den manchmal blutrot leuchtenden Farbwechselnden Gorgonien. Mit ihren Polypententakeln auf den ausladenden Fächerarmen durchforsten sie die Strömung nach Plankton.

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ReisetippsAnreise: Verschiedene Airlines fliegen direkt von der Schweiz nach Sardinien oder mit Zwischenstopp in Paris nach Korsika. Autofähren nach Korsika ab Toulon, Marseille oder Nizza, nach Sardinien ab Livorno oder oder Civitavecchia. Der Reiseveranstalter FTI organisiert auch Ausflüge in das Schutzgebiet.

www.fti.ch
www.sardegnaturismo.it
www.toute-la-corse.com

In der Felsenlandschaft am Meeresgrund wie der von Mérouville taucht man manchmal in Wolken von Streifenbrassen. Die Sichtweite erstreckt sich hier oft auf über 20 Meter. Auf der Île Lavazzo entdeckt Filigheddus Bootsgesellschaft – allesamt Touristen vom italienischen Festland – noch eindrucksvollere Strandbuchten. Das Eiland darf es durchaus mit den berühmten Fototapeten-Stränden der Seychellen aufnehmen. Zwar fehlen die Kokospalmen – das Mittelmeer funkelt jedoch genauso türkis wie der Indische Ozean.

Nicht jeden empfängt der Lavezzi-Archipel jedoch als Paradies. 1855 starben hier in einer nebligen Februarnacht mehr als 700 Matrosen und Sodaten, als ihre Fregatte Schiffbruch erlitt. Erst vor Kurzem strandete wieder ein Frachter, der die Grenzen des Meeresreservats missachtete. Öl trat glücklicherweise jedoch offenbar nicht aus.

«Ich war in Asien, Afrika und Südamerika», erzählt Filigheddu, «aber nirgendwo ist das Meer so schön wie hier.» Weil es ausser im Tourismus in der sardischen Region Gallura jedoch kaum noch Arbeitsplätze gibt, ziehen vor allem junge Galluresen immer häufiger weg. 

Einer von denen, die geblieben sind, ist Jacopo Andelmi. Der 24-Jährige mit dem hippen Samurai-Haarknoten auf dem Hinterkopf bricht am darauffolgenden Morgen ebenfalls von der galluresischen Küste auf, um einer kleinen Gruppe Touristen den Nationalpark La Maddalena zu zeigen – die italienische Seite des Meeresschutzgebiets. 

Andelmi steuert zunächst die Isola Spargi mit ihren funkelnden Sandbuchten an. «Diese hier heisst Cala Soraya, weil die persische Prinzessin hier so gern badete», verrät Andelmi. Die Spiaggia Rosa, lediglich ein paar Segelminuten weiter auf der Isola Budelli, hat nur noch einen mit viel Fantasie erkennbaren rosafarbenenen Schimmer. Ein Einzeller verhalf dem Strand einst zu seiner besonderen Farbgebung und seinem Ruhm. «Zu viele Touristen haben immer wieder Sand mitgenommen und beim Auswerfen ihrer Anker die Mikroorganismen zerstört», sagt Andelmi. Heute ist der Strand weitgehend abgesperrt.

Seltene Landbewohner
Eine andere geschützte Stelle haben sich etliche Jachten und Motorboote als Ankerplatz ausgesucht. Einige sind wohl aus Porto Cervo an der Costa Smeralda herübergekommen, dem sardischen Pendant zum Millionärstreffpunkt Saint-Tropez. «Im Sommer liegt hier Boot an Boot», sagt Andelmi, «dann sollte man am besten gar nicht erst herkommen.»

Im September und Oktober, solange das Wasser zum Baden noch nicht zu kalt ist, ist für den Sarden die beste Zeit, um den Archipel zu besuchen. Oder im Mai oder Juni, wenn man bisweilen von hier aus die noch schneebedeckten Berge Korsikas sehen kann.

Der Archipel lohnt ohnehin nicht nur für Schnorchler und Taucher einen Besuch. Der Duft der Wildkräuter – Lorbeer, Myrthe, Schopflavendel und Thymian – gehört Wanderern meist allein. Aufmerksame Beobachter werden auch den einen oder anderen seltenen Inselbewohner aufspüren. Sowohl die Griechische Landschildkröte als auch die Breitrandschildkröte sind hier zu Hause. Die Tyrrhenische Gebirgseidechse und die Zwerg-Kieleidechse kommen nur auf Sardinien und Korsika vor. Der Europäische Blattfinger­gecko und der Sardische Scheibenzüngler sind ausser auf den Inseln nur an wenigen Küstenabschnitten des Festlands verbreitet.

Frankreich oder Italien? Für die seltenen Bewohner des Meeresreservats scheint egal, wo die Menschen ihre Grenzen ziehen. Geschützte Rückzugsorte werden für sie immer wichtiger. Nach jüngsten Angaben des WWF sind über die Hälfte aller Hai- und Rochenarten des Mittelmeers bedroht. Ein Drittel stehe am Rand der Ausrottung. Überfischung und Verschmutzung habe in den letzten zehn Jahren weitere Lebensräume zerstört. Bleibt zu hoffen, dass länderübergreifende Schutzgebiete wie das in der Strasse von Bonifacio entstehen. Für gefährdete Arten wie Karettschildkröten und Korallenmöwen werden sie in Zukunft wohl überlebenswichtig sein.