Auf den ersten Blick sieht das Zimmer auf dem Bauernhof von Deli Fisera unbelebt aus. Doch da, unter einem Gestell, ist ein schwarzer Fellfleck auszumachen. Und ein weiterer in einem offenstehenden Käfig. Und dahinter im untersten Abteil eines türlosen Schrankes sind nochmals zwei, einer davon etwas grösser. Es sind vier Katzen, eine Mutter mit drei Jungen, die hier zwei Tage zuvor eingezogen sind. Dieser Bauernhof im Dörfchen Thunstetten im Kanton Bern ist ihr neues Zuhause, an das sie sich nun gewöhnen sollen.

Katzen werden nie handzahm
Keine streicht dem Besucher um die Beine. Keine springt ihm auf den Schoss, um sich streicheln zu lassen. Stattdessen verstecken sich die Katzen, sobald ein Mensch auftaucht. Zuvor haben sie bei einem Mann gelebt, der sich altershalber nicht mehr um sie kümmern konnte. Dann kamen sie ins Tierheim. Dort wurde rasch klar, dass diese verwilderten Katzen nie mehr handzahm werden, wie es sich die meisten Menschen wünschen würden, und deshalb kaum Chancen haben, als Haustiere an neue Besitzer vermittelt zu werden. In den ersten Lebenswochen, die für die Sozialisierung entscheidend sind, fehlte ihnen der Kontakt zu Menschen.

«Für solche Katzen ist es sehr schwierig, einen geeigneten Platz zu finden», sagt Natalie Röthlisberger vom Tierschutzverein Oberaargau, die sich dem Schicksal dieser Katzen angenommen hat. Doch diesmal hatten sie Glück – Deli Fisera, die sie bereits aus früheren Einsätzen kannten, war bereit, den Tieren genau das zu bieten, was sie brauchen: Ein geschützten Ort, den sie jederzeit aufsuchen können. Futter. Und einen Menschen, der reagiert, falls eine der Katzen mal medizinische Hilfe benötigt.

Deli Fisera, die beruflich Menschen pflegt, hat mit ihrer Tochter zusammen schon eine ganze Reihe notleitender Tiere aufgenommen, von anderen Katzen über Hunde bis hin zu Ziegen. Als kürzlich ihr Mieter auszog, entschied sie sich, eines der frei gewordenen Zimmer ganz den Katzen zur Verfügung zu stellen. Mit einem improvisierten Tisch vor dem Fenster, einer Röhre aus Stoff am Boden und leeren Regalen im offenen Schrank hat Fisera den Raum tiergerecht eingerichtet. Nur den Holzboden will sie noch mit Kunststoff abdecken, um danach besser putzen zu können.

Entwurmt, geimpft, kastriert
Hier sollen die Katzen ein- und ausgehen können, wie es ihnen beliebt. Doch zuerst müssen sie die neue Umgebung mit den ungewohnten Gerüchen kennenlernen und verstehen, dass dies ihr neues Zuhause ist, ein sicherer Ort. Deshalb haben die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen vom Tierschutzverein Oberaargau ein geräumiges Gehege vor dem Fenster des Zimmers installiert – gross genug, dass ein Mensch aufrecht darin stehen und ein paar Schritte gehen kann.

Mit zusätzlichen Gittern und Kabelbindern haben sie sorgfältig alle Spalten zur Hausmauer zugemacht, damit kein noch so schlankes Kätzchen durchschlüpfen kann. Im Käfig drin stehen Kratzbäume und eine Orangenkiste, eine Holztreppe und ein Korbstuhl, es ist eine richtige kleine Landschaft zum Klettern, Hoch- und Runterspringen oder auch um sich zu verstecken.

Noch hat sich aber keine der schwarzen Katzen vom Zimmer aus via Fenster ins Gehege gewagt. Stattdessen sitzen zwei Tigerli, ungefähr gleich alt wie die kleinen Schwarzen, im Körbchen auf der Fensterbank, und eine junges Oranges klettert am Gitter hoch bis an die Decke des Geheges. «Diese sind hier geboren», erklärt Deli Fisera. «Ihre Mutter faucht, sobald sich ihr jemand nähert, und hat das auch ihren Jungen beigebracht. Auch für sie lässt sich deshalb kein anderer Platz finden – wer will schon eine Katze, die ihn oder sie anfaucht.»

Drei, vier Wochen, wenn nötig auch länger, soll das Gehege hier stehen bleiben, bis sich auch die neu zugezogenen Katzen hier wohl fühlen. Wenn sie danach zumindest zum Fressen regelmässig zum Haus zurückkommen, können ihnen bei Bedarf übers Futter Medikamente verabreicht werden, zum Beispiel zur Entwurmung. Derzeit sind sie allerdings bereits wurmfrei, und auch geimpft und kastriert wurden sie, bevor sie hier ankamen – die Tierärztin hielt die Frühkastration für die 13 Wochen alten Kätzchen für weniger stressig als ein späteres erneutes Einfangen.

Froh um jeden Platz
In einen Käfig müssen sie von jetzt an nur noch im Notfall – also falls eine so schwer krank ist oder sich verletzt, dass sie tierärztlich versorgt werden muss. Katzen, die sich gar nicht anfassen lassen, kann sogar nach dem Einfangen noch im Käfig durch das Gitter eine Spritze verabreicht werden. Doch wer weiss, vielleicht verlieren zumindest die Jungen hier doch noch etwas von ihrer Scheu. Schmusetiere werden es gewiss nicht, aber Deli Fisera nimmt sich viel Zeit, um ihnen näherzukommen – mehr Zeit, als sich das Personal in einem Tierheim für eine einzelne Katze nehmen könnte.

Schon wagt das eine junge Schwarze das Zimmer trotz Anwesenheit des Menschen ein wenig zu erkunden, hüpft auf den Tisch vor dem Fenster. Die Frau nähert sich einem anderen, das im Schrank am Boden sitzt, streckt sachte die Hand aus, und siehe da – sie kann es nehmen. Strahlend hält sie das Tierchen in den Armen.

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Dass sich jemand so intensiv verwilderten Katzen widmet, ist allerdings selten. Das Team vom Tierschutzverein Oberaargau wäre schon froh, überhaupt für jede Katze einen Platz zu finden. «Wer in einem Quartier wohnt, wo die Nachbarn zahme Katzen haben, kann kaum verwilderte aufnehmen. Eine frei zugängliche Futterstelle würde auch die Zahmen anlocken. Und umgekehrt hätten die Nachbarn wohl auch keine Freude, wenn Streunende bei ihnen auftauchen würden», sagt Natalie Röthlisberger.

«Infrage kommt, wer etwas abgelegen wohnt und einen Raum mit Fenster oder Katzentüre zur Verfügung stellen kann, zum Beispiel ein Gartenhaus, einen Schuppen oder eine Garage. Wir versuchen jeweils über Facebook Leute zu finden, die so etwas anbieten können, aber der Mangel an Plätzen ist für uns ein grosses Problem.» Denn immer wieder gelangen solch halb verwilderte Katzen zu ihnen. Das können auch mal über ein Dutzend auf einmal sein, etwa wenn ein Bauernhof-Besitzer wechselt und die Nachfolger nicht die Streuner der Vorgänger übernehmen wollen.

«Mir geht es darum, Katzenelend zu verhindern», sagt Deli Fisera, während sie die Jungtiere im Aussengehege beobachtet. Bei einem der Schwarzen überwiegt die Neugier bereits die Angst, es hopst von der Fensterbank aus auf den Katzenbaum im Gehege. Deli Fisera strahlt.

Der Text erschien erstmals 2019 in der «Tierwelt».