Der Kanadier Tim Bartlett wird diesen Vorfall nie vergessen. Er fuhr mit seinem Motorrad auf dem Highway 93, einer viel befahrenen Strasse in der Nähe des Touristenortes Radium in der Provinz British Columbia. Da schoss ein Wolf wie ein Pfeil vom Wald auf die Strasse und verfolgte Bartletts Motorrad. Erst nach etwa einem Kilometer gab das erwachsene Tier auf. Das geschah am 8. Juni 2013 und machte Schlagzeilen in ganz Kanada. «Der Wolf näherte sich mir auf einen Meter», sagte Bartlett der kanadischen Zeitung National Post.

Dieses Verhalten eines wilden Wolfes, in Kanada «grey wolf» (Canis lupus) genannt, ist in den Augen von Experten äusserst ungewöhnlich. Sie nehmen an, dass der Wolf auf diesem Strassenabschnitt von Touristen gefüttert wurde und nun Fahrzeuge mit Futter assoziiert.

Die Überlebenschancen stehen schlecht für ihn: Wahrscheinlich wird er getötet, da er eine Gefahr für Menschen geworden ist. In der westkanadischen Provinz British Columbia, wo es mehr Wölfe als in anderen kanadischen Provinzen und Territorien gibt, leben die Raubtiere auch sonst gefährlich: Ihnen droht der weiträumige Abschuss. Die Regierung von British Columbia hat einen Plan vorgelegt, in dem sie Jägern in manchen Gegenden der Provinz das Recht einräumen will, während des ganzen Jahres so viele Wölfe zu töten, wie sie wollen. Rancher und Farmer dürfen auch ohne Genehmigung auf ihrem Land Wölfe auf jegliche Art töten, sei es mit Fallen oder Gift. Auch grausame Drahtschlingfallen sind erlaubt, obwohl diese gegen ein internationales Abkommen verstossen, das Kanada unterschrieben hat.

Jagdklubs veranstalten Wettbewerbe, bei denen Wölfe abgeschossen werden
Die Provinzregierung gab der Öffentlichkeit nur drei Wochen Zeit, um sich zu ihren Empfehlungen zu äussern. Tierschützer kritisieren, dass die Regierung dem Druck von Viehzüchtern und Jägern nachgebe. «Ihr Plan versucht, Wölfe in grossen Teilen der Provinz auszumerzen», sagt Ian McAllister, Direktor der Umweltorganisation Pacific Wild. «Sie stellt keine Schutzgebiete bereit, wo Wölfe nicht mit Fallen, Gift, Gewehren oder vom Helikopter aus gejagt werden dürfen.» Selbst Junge in der Höhle seien nicht sicher. In den USA steht der Wolf dagegen auf der Liste der gefährdeten Tierarten.

Nach Angaben von Brennan Clarke, Sprecher des Ministeriums für Wald, Land und natürliche Ressourcen, wurden im Jahr 2010 rund 1200 Wölfe von Jägern und Trappern aus sportlicher Betätigung, als Trophäe oder für Geld getötet. Auch Wettbewerbe um den Abschuss von Wölfen sind in British Columbia erlaubt. Ein Waffenklub setzte auf seiner Website eine Belohnung aus von 1000 Dollar für den grössten Wolf und 150 Dollar für den kleinsten Wolf. Jeder Teilnehmer konnte drei Wölfe töten.

Renate Studer, eine Schweiz-Kanadierin, züchtete mit ihrem Mann Heino zwanzig Jahre lang Rinder, drei Stunden von der Stadt Williams Lake entfernt. Vor fünf Jahren hörten sie damit auf. Ihr Zuhause ist von Wäldern umgeben, aber Probleme mit Wölfen hatten sie nie. «Es gibt ja genug Wild und andere Tiere zum Fressen», sagt Studer. Sie erinnert sich lediglich an ein Kalb, das wahrscheinlich von einem Wolf getötet wurde. Manchmal hört sie, dass sich andere Farmer und Rancher beklagen, aber sie findet das übertrieben. Dass ein Wolf «manchmal etwas aufräumt», glaubt sie schon: «Die Kühe sind ja im Territorium der Wölfe.» Wenn die Menschen immer mehr Natur für sich beanspruchten, könnten die Wölfe doch nicht mehr ausweichen.

Die kanadischen Farmer dringen immer weiter ins Territorium des Wolfes ein
Nach Informationen der Provinzregierung ist die Zahl der Wölfe in British Columbia relativ stabil: Sie wird auf 6100 bis 10'800 Tiere geschätzt, aber die Behörden nehmen einfach ein Mittel von 8500 Wölfen. Im Jahr 1991 waren es laut Brennan Clarke 8100 Wölfe gewesen. Das bedeutet eine Zunahme von lediglich 400 Wölfen in 22 Jahren.

Allerdings weiss eigentlich niemand, wie viele Wölfe es wirklich gibt, denn sie sind im Gegensatz zum Wild sehr mobil und schwierig zu zählen. «Es existiert keine unabhängige Studie über Zahl oder Gesundheitszustand der Wolfpopulation in British Columbia», sagt der Tierschützer Ian McAllister. 

Trotzdem schlägt die Provinzregierung einen weiträumigen Abschuss vor mit der Begründung, Wölfe würden in Teilen der Provinz immer mehr Vieh töten. Das verwundert, denn offiziell waren es weniger als 200 gerissene Rinder oder Kühe im vergangenen Jahr – getötet nicht nur von Wölfen, sondern auch von Raubtieren wie Bären oder Pumas. Das ist nur ein winziger Teil der rund 740 000 Stück Vieh in British Columbia. Zudem erhalten die Rancher und Farmer 75 Prozent des Verlustes von der Regierung zurückerstattet. 

Laut Kevin Boon, Sprecher der Viehzüchtervereinigung in British Columbia, haben Mitglieder im vergangenen Jahr mehr als 2000 von Raubtieren gerissene Kühe und Rinder gemeldet. Aber Boon räumt ein, dass seine Organisation diese Meldungen nicht verifiziere. Die Vereinigung hat die Regierung trotzdem gebeten, die Wölfe auf eine «vernünftige Zahl» zu reduzieren. «Die Wölfe kommen auf der Spur des Wildes, und dann setzen sie den Rindern nach», sagt Boon. Zuletzt kommt er indes auf das eigentliche Problem zu sprechen: Die menschlichen Siedlungen dehnten sich zunehmend in Landwirtschaftszonen aus, sagt er: «Deshalb müssen Farmer und Rancher immer mehr in entlegene Gegenden im Norden ausweichen.» Was Boon nicht sagt: Diese Gegenden, die nun plötzlich zu Rinderweiden werden, sind das Territorium des Wolfes.

Der Lebensraum des Waldkaribus wird zerstört – und der Wolf bezahlt dafür
Die Provinzregierung wartet noch mit einer weiteren Begründung für ihren Wolfabschuss- plan auf. Es gehe darum, das Waldkaribu, eine gefährdete Tierart, vor Wölfen zu schützen. Dieses Argument stösst Ian McAllister besonders sauer auf. «Die Regierung erlaubt Gasförderung, Strassen und Schneemobile und zerstört damit systematisch den Lebensraum von Waldkaribus», sagt er. «Der Wolf ist nur der Sündenbock.»

Für Chris Darimont, wissenschaftlicher Direktor der Umweltorganisation Raincoast Conservation, ist der Wolfabschussplan «hanebüchen». British Columbia habe bereits jetzt die am wenigsten eingeschränkte Jagd auf Wölfe, sagt er. Dass man sie noch mehr lockern wolle, zeige, dass diese Methode nicht funktioniere. Das weiträumige Töten von Wölfen zur Kontrolle der Population sei schon immer erfolglos gewesen, sagt Darimont, der auch Assistenzprofessor für Geografie an der Universität von Victoria ist: «Die Wölfe sind sehr gut in der Reproduktion, und sie weichen auf Gegenden aus, wo andere Wölfe abgeschossen wurden.» 

Renate Studer findet es wichtig, dass es ein Gleichgewicht in der Natur gibt. Dazu gehören für sie auch Wölfe. Einmal sah sie durchs Stubenfenster einen grossen, schönen Wolf ganz still am Waldrand stehen. Für die Schweiz-Kanadierin war es ein Zeichen, dass das Gleichgewicht in ihrer Welt noch stimmt.