Im nördlichen Aargau sind Wildschweine häufig, im südlichen Teil des Kantons kommen sie kaum vor. Die Grenze: die Autobahn A1. Dieser eingezäunte, dreissig Meter breite Asphaltstreifen, über den täglich gegen 100 000 Autos fahren, hindert die Wildschweine an ihrer Ausbreitung. 

Ähnlich sieht es bei den Rothirschen im Berner und Solothurner Mittelland aus. Sie haben sich aus den Voralpen und vom Emmental aus bis an die A1 ausgebreitet, nördlich davon sind sie jedoch kaum je anzutreffen. Zwar kann ein Hirsch über hohe Zäune springen und einst überquerte gar ein mit einem Sender versehenes Tier sowohl die A5 als auch die A1, doch das scheinen Einzelfälle zu sein. Und selten verläuft es glimpflich: Von den fünf Hirschen, die von 2010 bis 2014 auf der A1 gesichtet wurden, liessen vier dabei ihr Leben. 

Bei anderen Tierarten ist der Einschnitt in den Lebensraum durch breite Strassen weniger offensichtlich, weil sie beidseitig davon vorkommen. Während kleine Arten wie der Igel nirgends erfasst werden, liefert bei grösseren die Jagdstatistik Hinweise. So sind im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben schweizweit 8423 Rehe im Stras­senverkehr ums Leben gekommen, bei den Füchsen gab es 6038 Opfer (siehe Tabelle). Von den 185 als Fallwild erfassten Bibern im Jahr 2015 dürften die meisten im Stras­senverkehr ums Leben gekommen sein. 

Doch diese Zahlen zeigen ein unvollkommenes Bild. Dazu Simon Capt vom Schweizer Zentrum für die Kartografie der Fauna in Neuenburg: «Luchse zum Beispiel können problemlos einen Zaun von eineinhalb Metern Höhe und mehr überqueren. Aber meist versuchen sie es gar nicht.» Sie tauchen also kaum in der Statistik auf, obwohl ihr Lebensraum durch die Strassen beeinträchtigt wird. 

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  Bild: TW

Das Getreidefeld ist im Weg 
Das gilt auch für kleinere Säugetiere wie die Haselmaus, die in der Schweiz als gefährdet gilt. Sie hält sich ungern am Boden auf und vermeidet offene Flächen, auf denen sie Fressfeinden ungeschützt ausgeliefert ist. Auf eine Autobahn wird sie sich laut Capt kaum wagen. Auch Tiere, die von gewissen Pflanzen abhängig sind – etwa manche Käferarten – überqueren keine breiten Strassen. 

Autobahnen und andere Strassen sind aber längst nicht die einzigen Barrieren für Wildtiere. Inzwischen ist auch der Bahnverkehr auf gewissen Abschnitten so dicht geworden, dass er die Mobilität von Wildtieren beeinträchtigt, etwa zwischen Aarau und Zürich, wo die Züge auch nachts in hoher Frequenz verkehren. In Teilen des Mittellands hindert zudem die dichte Besiedlung Wildtiere an der Ausbreitung. Hinzu kommt, dass auf landwirtschaftlichen Flächen vielfältige Strukturen mit Hecken und Einzelbäumen rar geworden sind. Stattdessen werden immer grössere Felder mit einzelnen Getreide- oder Gemüsesorten bepflanzt, die nur für sehr wenige Tierarten attraktiv sind. Sogar Wälder können zu Hindernissen werden, wenn sie dicht mit Bäumen einer einzigen Art bepflanzt sind. «Eine Fichtenkultur kann eine Hemmschwelle für einen Siebenschläfer oder eine Haselmaus sein», erklärt Simon Capt. «Wenn das Tier keine Haselsträucher sieht, wird es nicht weitergehen.»

Auch Flüsse und Seen bilden Einschnitte in die Lebensräume von Tieren. Die meisten Säugetiere können aber schwimmen. «Wildtiere wie Wildschweine und Rehe können je nach Strömung den Rhein überqueren», sagt Odile Bruggisser, Projektleiterin bei der Abteilung Landschaft und Gewässer des Kantons Aargau. «Probleme kriegen sie unter Umständen, wenn die Ufer verbaut sind.» Während bei naturbelassenen Gewässern höchstens mal eine Felswand den Ausstieg erschwert, können Kanäle mit steilen Betonwänden zu Fallen werden. So beschrieb das Bundesamts für Umwelt (Bafu) vor einigen Jahren in einem Bericht, dass Rehe in betonierten Bachläufen im Kanton Nidwalden zu Tode stürzten oder sich schwer verletzten. 

Die Zahl der Barrieren wächst weiter
Das grössere Problem als die einzelnen Todesfälle ist für die Rehe dabei, dass ihr Lebensraum durch die Kanäle zerschnitten wird. Zwar kommen Rehe in der ganzen Schweiz vor, aber die Hindernisse zerteilen sie in kleine Populationen, die in ihrer Bewegung eingeschränkt sind und unter denen es zu wenig Austausch kommt. So fällt es ihnen etwa in einem harten Winter schwerer, in andere Gebiete auszuweichen, wo sie mehr Futter finden würden. Ist eine Teilpopulation stark geschwächt, werden Tiere aus anderen Populationen durch Barrieren wie Strassen, Bahnlinien, Kanäle am Zuwandern gehindert. Und nicht zuletzt mangelt es in einzelnen, voneinander getrennten Populationen an genetischer Vielfalt und es kommt zu Inzucht, wodurch die Tiere anfällig für Krankheiten werden. 

Aus Sicht von Naturschützern müssen die Lebensräume der Rehe deshalb vernetzt werden. Bedroht ist diese Art aber trotz der vielen Hindernisse in der Schweiz nicht. Doch es gibt andere Beispiele: Der Feldhase etwa ist zwar im gesamten Mittelland verbreitet, gilt aber laut der Roten Liste als gefährdet, und dies unter anderem wegen der Zerstückelung seines Lebensraums.

Ein Ende des Trends ist nicht auszumachen. Sowohl der Strassen- als auch der Bahnverkehr nehmen weiter zu und auch die Siedlungsräume wachsen nach wie vor. Nur bei den Gewässern hat es aus Sicht der Wildtiere gebessert in den letzten Jahrzehnten, dank Renaturierungen sind viele Flüsse und Bäche heute leichter zu überqueren. 

Langwieriger Wildtierbrückenbau
303 Wildtierkorridore von überregionaler Bedeutung beschreibt das Bafu auf seiner Website. Von diesen ist aber nur etwa ein Drittel intakt. Das soll sich ändern, Bund und Kantone haben begonnen, die wichtigsten Korridore durch Bauwerke zu sanieren. Unterführungen und Brücken ermöglichen es Wildtieren, insbesondere Autobahnen ungefährdet zu queren. Damit ist es aber noch nicht gemacht, wie Odile Bruggisser erklärt: «Wildtierbrücken sind vor allem dann sinnvoll, wenn die Tiere auf beiden Seiten auch Landschaften vorfinden, die ihnen behagen.» Die Kantone handeln deshalb Verträge mit Landwirten aus, um den Tieren extensive Wiesen, Hecken, Einzelbäume, Ast- und Steinhaufen zur Verfügung zu stellen. 

Die Hindernisse für die Wildtiere durchlässig zu machen, ist also ein längerfristiger Prozess. Es könnte noch ein paar Jahre dauern, aber früher oder später werden Wildschweine wohl auch in den südlichen Aargau und Hirsche in den nördlichen Solothurn vordringen.