Chris Mozolowski steht in Unterhose und mit nacktem Oberkörper vor der kleinen Holzhütte im Wald, sprayt sich etwas, das wie Rasierschaum aussieht, auf die Hand und beginnt sich damit einzureiben, vom Scheitel bis zur Sohle. Francesco Rizzi steht daneben, grinst und schüttelt den Kopf. «Er ist ein Freak», sagt er nur. Mozolowski bereitet sich nicht auf eine Ganzkörperrasur vor, sondern auf die Jagd. «Der Schaum eliminiert menschliche Gerüche», sagt er. «Tiere fliehen, wenn sie Mensch riechen.»

ch darf Mozolowski und seinen Kollegen Rizzi an diesem Novemberwochenende auf der Jagd begleiten, auf einer Jagd mit Pfeil und Bogen. Die beiden sind zwei von rund 60 Mitgliedern des Verbands Schweizer Bogenjäger VSBJ, Mozolowski der Präsident und Rizzi der Marketingchef. Der VSBJ ist ein Verband ohne Zuhause, denn die Bogenjagd ist in der Schweiz nicht erlaubt. Deshalb verbringen wir das Wochenende auch nicht in heimischen Wäldern, sondern im nahe gelegenen Ausland, im Elsass. Francesco Rizzi ist Mitpächter eines Jagdreviers in den südlichen Ausläufern der Vogesen, zusammen mit anderen Bogen-, aber auch mit Gewehrjägern. Am Lagerfeuer vor der Cabane, der Hütte ohne Strom und fliessend Wasser, treffen sich die Jäger jedes Wochenende und berichten über ihre Erfolge und Misserfolge mit Büchse und Bogen.

In einem Waldstück unweit der Cabane sollen wir zum Erfolg kommen. Am Rand einer kleinen Lichtung ist eine blaue Plastiktonne an einem Ast aufgehängt, ein Futterspender, der zweimal am Tag ein paar Handvoll Maiskörner zu Boden rieseln lässt. Das lockt die Tiere an, vor allem aber, sagt Francesco Rizzi, gehe es darum, die Wildschweine im Wald zu behalten. «Hier gehören sie hin. In den Feldern im Dorf unten richten sie Schäden an.»

Ein Hochsitz zum Selberbauen
Chris Mozolowski ist nicht sonderlich angetan von dem Jagdplätzchen, das ihm Rizzi zugewiesen hat. Dabei hätte er hier alles auf dem Silbertablett serviert: Eine Metallplattform ist hoch oben auf einem Baum fixiert, keine zehn Meter von der Futterstelle entfernt. Der Bogenjäger müsste nur hochklettern und warten, bis er Besuch von Wildtieren bekommt. Doch sein Ehrgeiz verbietet ihm das. «Wenn ich jage, will ich auch etwas dafür tun», sagt er. Deshalb packt er den Treestand aus dem Kofferraum seines Geländewagens. Einen Hochsitz zum Selberbauen, bestehend aus zwei metallenen Gittergestellen. Das eine sieht aus wie ein überdimensionierter Schneeschuh, das andere ist kleiner und trägt ein gepolstertes Sitzkissen. 

Mozolowski, von Kopf bis Fuss in Tarnkleidung gewandet, sucht sich einen anderen Baum, auf der gegenüberliegenden Seite des Futterspenders und schnallt die beiden Treestand-Elemente mit dicken Kabeln um den Stamm. Nun hievt er sich Meter für Meter in Richtung Baumkrone empor. Er schiebt den Sitz hoch, krallt seinen Oberkörper daran fest und zieht mit den Beinen die Plattform nach.

Kommt ihm ein Ast in die Quere, säbelt er ihn ab. Zimperlich ist Mozolowski da nicht, aber immer so leise wie möglich, denn Tiere haben nicht nur eine feine Nase, sondern auch gute Ohren. Nach ein paar Minuten ist er in fast zehn Metern Höhe angelangt. Das reicht. Nun zieht er seine Ausrüstung an einem Seil nach oben, erst den Rucksack, dann seinen Bogen. Mit einem Laser-Distanzmesser peilt er einige Orientierungspunkte an, um zu erkennen, wie weit entfernt sie sind, nimmt einen Pfeil und spannt den Bogen probehalber. Alles passt. Jetzt ist warten angesagt.

Ich habe mich unterdessen ganz in der Nähe postiert, in einem hölzernen Hochsitz, mit Sicht auf Jäger und Futterstelle. Durch das Teleobjektiv sehe ich, dass Mozolowski auf seinem Smartphone herumdrückt. «Ich lese auf der Jagd gerne E-Books», erklärt er mir später. Ich hingegen sitze angespannt und mucksmäuschenstill in meiner Holzwarte und halte Augen und Ohren offen. Nur ja kein Wildtier übersehen, nur ja nicht den Schuss verpassen. Überall glaube ich, Tiere zu hören: Zieht ein Windstoss durch die Blätter, suche ich nach einem Reh, knarren die Bäume, höre ich das Grunzen einer Wildsau. 

Mein Gehirn spielt Tricks mit mir, die langsam einsetzende Dämmerung macht die Sache nicht besser, nach rund zwei Stunden kämpfe ich gegen den Schlaf und die Kälte. So verpasse ich auch die Hirschkuh, die nach Einbruch der Dunkelheit vorbeigezogen ist, wie mir Mozolowski mitteilt, als wir wieder am Boden sind. Für einen Schuss war es da schon zu dunkel und das Tier sowieso zu weit weg. «Mit einem Gewehr hätte ich vielleicht geschossen», sagt er, «aber mit dem Bogen wäre der Schuss viel zu riskant.»

Tiere rennen weiter
Die Jagd mit Pfeil und Bogen unterscheidet sich drastisch von der Gewehrjagd. In erster Linie, was die Schussdistanz betrifft. Während ein Büchsenjäger aus hundert Metern einen sauberen Schuss setzen kann, fliegt der Pfeil viel langsamer, das Tier hat mehr Zeit, zu reagieren. Darum sagt auch Mozolowski: «Aus höchstens dreissig Metern Distanz kann ich schiessen. Schüsse von weiter weg finde ich unverantwortlich.» Dementsprechend kleiner ist in der Regel auch die Jagdausbeute von Bogenjägern. Doch auch der Schuss hat eine ganz andere Wirkung aufs Tier. Eine Gewehrkugel dringt in die Beute ein, zersplittert dort in mehrere Teile oder pilzt auf. Das Gewebe des Tieres wird mit Gewalt zerrissen.

Der Jagdpfeil sieht ganz anders aus als derjenige, der zum Üben auf Zielscheiben verwendet wird. Statt aus solidem Metall besteht seine Spitze aus mehreren rasiermesserscharfen Klingen. Bei einem guten Treffer zerschneidet er damit Blutgefässe, Lunge oder Herz des Tiers und tritt auf der anderen Körperseite wieder aus. Oft schreckt das getroffene Tier dann hoch und rennt noch einige Dutzend Meter, bevor es sich wieder beruhigt. Erst dann sackt es allmählich zu Boden und stirbt. Für Sara Wehrli vom Schweizer Tierschutz STS ist die Bogenjagd deshalb problematisch. Die Organisation ist nicht grundsätzlich gegen die Jagd, «sofern die Jagdmethoden möglichst stressfrei für das Tier und möglichst rasch tötend sind», wie Wehrli sagt. Die Bogenjagd hingegen ist für sie «problematisch, weil die Gefahr von vermeidbarem Leiden beim bejagten Tier zu gross ist im Vergleich zur Schusswaffe».

Ein blauer Unterarm innert Sekunden
Chris Mozolowski hält dagegen: «Der Bogenschuss ist leise und verursacht einen stressarmen Tod für das Tier. Oft weiss es gar nicht, was geschieht, wenn es getroffen wird.» Aussage gegen Aussage, neutrale wissenschaftliche Studien zum Thema sind rar. Mozolowski betont aber, dass seine Gilde nicht aus «Möchtegern-Robin-Hoods» besteht. Auch Tierschützerin Wehrli gesteht ein: «Die modernen Jagdbögen sind Hightech-Geräte.» Im Gegensatz zum archaischen Langbogen, der aus einem Stück Holz und einer Sehne besteht, jagen die meisten Bogenjäger mit sogenannten Compound-Bögen. Bei diesen Modellen sind mehrere Kabel auf Rollen aufgewickelt, die das Hebelgesetz anwenden. 

Auf einem Übungsplatz darf ich mich selber als Bogenschütze versuchen. Ich spanne einen Pfeil in den Bogen und ziehe mit einer Art Handgriff, dem Release, an der Sehne. Das braucht anfangs eine Menge Kraft, aber als ich einen bestimmten Punkt überschritten habe, lässt die Spannung nach. Jetzt kann ich den Pfeil ganz ohne Anstrengung gespannt halten und durch das Fadenkreuz auf den Sandsack vor mir zielen. Als ich mit dem Zeigefinger den kleinen Abzug am Release betätige, entspannt sich das aufgerollte Kabel, die Sehne nimmt Fahrt auf, jagt den Pfeil in sein Ziel und rasiert meinen Unterarm, den ich dummerweise nicht angewinkelt hatte. Binnen Sekunden färbt er sich blau. Ich habe nicht auf die Anweisungen von Instruktor Rizzi gehört und spüre deshalb die Energie, die so ein Bogen in sich gespeichert hat, an meiner eigenen Haut. Selber schuld.

Vor Anfängern wie mir hat Sara Wehrli Angst. «Die Streuung bezüglich jagdlicher Fähigkeiten ist bei den Bogenjägern besonders gross», sagt sie, und spricht die laschen Jagdgesetze im Ausland an: «In Frankreich etwa erhält man meines Wissens den Jagdschein für die Bogenjagd nach einem kurzen Crashkurs.» Tatsächlich brauchen französische Jäger zwar einen Gewehr-Jagdschein, dürfen dann aber nach einem eintägigen Zusatzkurs mit Pfeil und Bogen auf die Jagd, wie Mozolowski bestätigt. Schweizer Jäger mit Jagdschein dürfen sogar ganz ohne Bogen-Ausbildung für drei Tage in Frankreich auf Bogenjagd gehen. Er wolle sich zwar nicht in die ausländische Politik einmischen, sagt Mozolowski, ergänzt aber: «Grundsätzlich finde ich das falsch. In der Schweiz wäre eine gründliche Bogenjäger-Ausbildung ein Muss.» 

Der Dachverband der Schweizer Jägerschaft, JagdSchweiz, stellt sich in erster Linie hinter das geltende Gesetz. «Die Bogenjagd in der Schweiz ist verboten und wir sehen keinen Grund, diese Jagdform zu fördern», sagt Geschäftsführer David Clavadetscher. Er ergänzt aber: «Ich habe höchsten Respekt vor den Bogenjägern und die Bogenjagd ist eine anerkannte Jagdmethode, die im Ausland nach geltendem Recht betrieben wird.» Doch sei sie keine Volksjagd. «Und das ist das, was wir in der Schweiz eigentlich wollen.» Stattdessen sei sie eine spezielle Jagd, die speziell ausgebildeten Leuten vorbehalten ist. «Wir können die Bogenjagd nicht für alle öffnen. Das würde zu schwierig zu handhaben.»

Chris Mozolowski will ebenfalls nicht, dass die Schweizer dereinst in Scharen mit Pfeil und Bogen durch die Wälder pirschen. «Die Bogenjagd soll kein Ersatz für die Gewehrjagd sein, sondern eine Ergänzung.» In Städten etwa, wo die Gewehrjagd eine Gefahr für den Menschen darstellen würde. Eine Fuchsplage auf städtischem Raum wäre für Mozolowski ein sinnvoller Anlass für den gezielten Einsatz von Bogenjägern. Bis dahin ist der Weg jedoch noch weit. Tierschützerin Sara Wehrli sagt: «Der Verband der Bogenjäger ist politisch völlig irrelevant. Deshalb hätten seine Forderungen nicht den Hauch einer Chance.»

Auge in Auge mit dem Gamsbock 
Bogenjäger-Präsident Mozolowski stimmt zu: «Wir haben noch nicht viel Durchschlagskraft.» Der VSBJ habe nun aber begonnen, den Dialog zu suchen. Mit Tierschützern, Tierärzten, hauptsächlich aber mit den kantonalen Jagdverbänden. «Wir haben die Hoffnung, dass sich irgendwo die Möglichkeit für eine Testjagd eröffnet», sagt Mozolowski. Alles, was die Bogenjäger dafür bräuchten, sei die Zustimmung eines Kantons und seiner Jägerschaft, ein Jahr lang in einem Revier mit Pfeil und Bogen jagen zu dürfen (siehe Kasten). «Erst dann soll weiter entschieden werden.» Bei ersten Gesprächen sei er auf ein mehrheitlich positives Echo unter den Gewehrjägern gestossen. «Ich habe Hoffnung.»

Die rechtliche Sicht
Die «Verordnung über die Jagd und den Schutz wild lebender Säugetiere und Vögel», kurz, die Jagdverordnung, führt in einer Liste die «Für die Jagd verbotenen Hilfsmittel» auf. Darin ist der Pfeilbogen enthalten. Ausnahmebewilligungen können die Kantone eigenhändig erteilen, aber nur, sofern sie nötig sind, um «bestimmte Tierarten oder Lebensräume zu erhalten, Wildschäden zu verhüten, Tierseuchen zu bekämpfen oder verletzte Tiere nachzusuchen».

 

Vorerst müssen die Schweizer Bogenjäger ihrer Passion aber im Ausland nachgehen. Wie hier im Elsass, wo in der Cabane am nächsten Morgen schon früh wieder Leben einkehrt. Um sechs Uhr geht es los, diesmal auf die Pirsch auf einem Bergrücken. Im dichten Nebel stehen wir kurz vor Sonnenaufgang im Gehölz, wo uns Rizzi unsere Plätze zuweist. Im Abstand von rund hundert Metern verstecken wir uns hinter Bäumen und erwarten Hirsche, Gämsen und Wildschweine auf ihrem Weg vom Schlaf- zum Futterplatz. 

Geschossen wird auch an diesem Morgen nicht, der Einzige, der die Chance auf einen Treffer hätte, bin ich, der Nicht-Jäger. Ich komme zu einem Rencontre mit einem Gamsbock. Unbekümmert spaziert er in meine Richtung, bis er rund sieben Meter vor mir stehen bleibt. Nach einem kurzen Blickwechsel mit mir scheint er zu realisieren, dass ich ein Mensch bin und rennt im Galopp davon.