Es herrscht Hochbetrieb im Zürcher Hauptbahnhof. Im Minutentakt fahren die Züge ein. Sie spucken Touristen und Pendler aus, die eilends ihres Weges gehen. Für den Menschen ist der HB ein Durchgangsort, zu Hause ist hier niemand. Für einige Tierarten aber ist die Bahnhofshalle Nachtquartier, Futterplatz und Spielwiese in einem. Zum Beispiel für das Trüpplein Strassentauben, das gerade auf der Suche nach ein paar Krümeln ist. Oder für den Hausspatz, der sich irgendwo unter der Kuppel in Sicherheit bringt. «Die vielen Pfeiler und Verstrebungen im Hauptbahnhof bieten den Spatzen genügend Hohlräume und Nischen, in denen sie Nester bauen können», sagt die Biologin Sandra Gloor, Leiterin des Projekts StadtWildTiere, das aufzeigen will, welche Vielfalt an Wildtieren im Siedlungsgebiet lebt. 

Auch Futter findet der Spatz als Allesfresser im Bahnhof genug. Zum einen dank der Passanten, die beim Essen ihres Sandwichs oder Gipfelis Krümel zu Boden fallen lassen. Zum anderen dank der Züge: Sie bringen nicht nur Passagiere mit, sondern auch unzählige Insekten, die während der Fahrt an der Frontscheibe der Lokomotive zerschmettert werden. «Manchmal kann man Spatzen beobachten, wie sie diese Insekten bei gerade angekommenen Zügen von den Scheiben picken», erzählt Gloor. Vor allem im Frühling und im Sommer, um die Jungen zu füttern, denn diese sind auf Insektennahrung angewiesen.

Eine Eiche, tausend Tierarten Nicht nur der Spatz fühlt sich in Städten wohl. Immer wieder haben Untersuchungen in den letzten Jahren gezeigt, dass das Siedlungsgebiet eine enorme Artenvielfalt beherbergt. In einer Studie in den Städten Zürich, Luzern und Lugano, an der Sandra Gloor beteiligt war, wurden unter anderem 63 Vogel- und 285 Gliederfüsserarten wie Wildbienen, Käfer oder Spinnen nachgewiesen. 

Laut der Erhebung sind die meisten tierischen Stadtbewohner eng gebunden an Wiesenflächen, Gehölze oder Bäume. Auf älteren, selten gemähten Rasenflächen etwa finden sich die meisten Käfer-, Bienen- und Spinnenarten. Und bei Vögeln ist die Anzahl Bäume innerhalb eines Radius von 50 Metern der wichtigste Anzeiger der Qualität eines Lebensraums.

Es erstaunt darum nicht, dass Parks nicht nur für gestresste Stadtmenschen eine Wohltat sind, sondern auch eine Schlüsselfunktion für die Biodiversität in der Stadt einnehmen. In Zürich zum Beispiel der Platzspitz, gleich neben dem Hauptbahnhof. In dem einst als Treffpunkt der Drogensüchtigen in Verruf geratenen Park stehen in grosszügigen Rasenflächen Dutzende Bäume, umgeben von Büschen oder Rosenrabatten. Vor allem grosse, alte Bäume beherbergten zum Teil einen ganzen Kosmos an Arten, sagt Gloor. Allerdings sei Baum nicht gleich Baum. Sie zeigt auf einen schlanken Ginkgo-­Baum, dessen Blätter herbstlich gelb gefärbt sind. «Weil der Baum aus China stammt, gibt es bei uns kaum Insekten, die sich darauf wohlfühlen. Eine alte Eiche dagegen kann mehr als 1000 Tierarten ein Zuhause bieten.»

Typische Städter
Mit dem Projekt StadtWildTiere, das unter der Trägerschaft des Vereins StadtNatur vor zwei Jahren in Zürich lanciert wurde und inzwischen auch in St. Gallen und im österreichischen Wien läuft, möchte Gloor diese Vielfalt der Bevölkerung näherbringen. «Wir wollen die Stadt als Lebensraum für Tiere sicht- und erlebbar machen und die Natur im Siedlungsraum fördern», sagt die Biologin. Mitmachen kann jeder, indem er seine Beobachtung meldet oder auf der Projektwebsite Schnappschüsse von Tieren in der Stadt hochlädt.

Gemeldet werden vor allem Tiere wie Eichhörnchen, Reh, Dachs, Fuchs oder Igel. Letzterer ist laut Gloor ein typischer Stadtbewohner. Gemäss Hochrechnungen leben allein in Zürich etwa 2000 bis 5000 der stacheligen Gesellen. Sie finden sich gut zurecht in abwechslungsreichen Hausgärten und begrünten Wohnquartieren. Besonders interessiert sind Igel an Komposthaufen. «Als wir einmal bei einem Projekt Stadtigel mit Telemetriegeräten verfolgten, waren sie so oft am Kompost, dass wir am Schluss witzelten, wir könnten nun jeden Komposthaufen im Quartier auf einer Karte einzeichnen», erzählt Gloor.

Um in der Stadt überleben zu können, müssen sich Tiere natürlich auch dem Menschen anpassen. «Von Stadtfüchsen weiss man, dass sie ihre Scheu vor uns etwas verloren haben», sagt Gloor. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Am wohlsten ist es dem Fuchs auch im Siedlungsgebiet, wenn er uns aus dem Weg gehen kann. Deshalb, das zeigen Studien, werden Füchse in der Stadt später in der Nacht aktiv als Artgenossen, die auf dem Land leben.

Einige Tierarten könnten bei uns wohl gar nicht leben, wenn es keine Städte gäbe. Den Mauersegler etwa habe es vor hundert Jahren im Mittelland noch gar nicht gegeben, sagt Gloor. Als Felsenbrüter fand er damals kaum Brutmöglichkeiten bei uns. Heute ist er im Mittelland ein häufiger Vogel, der praktisch ausschliesslich an hohen Häusern, Brücken oder Kirchtürmen brütet.

Andere Arten profitieren davon, dass bebaute Flächen wie ein Hitzespeicher funktionieren und es in Städten deshalb besonders warm ist. So lebt eine ganze Reihe von wärmeliebenden Arten wie die Südliche Eichenschrecke, die Weissrand- und die Alpenfledermaus oder die Springspinne Icius subinermis nördlich der Alpen nur in Siedlungen.

Warm lieben es auch die Bewohner der nächsten Station unseres Stadttierrundgangs: Zwischen den Schottersteinen eines stillgelegten Bahntrassees beim Flussbad Oberer Letten hat sich die grösste Population von Mauereidechsen nördlich der Alpen etabliert. Circa 5000 Eidechsen lebten hier, sagt Gloor.

Sprayer verschonen Eidechsen
Doch was, wenn die Stadt Zürich plötzlich zum Schluss kommt, dass sich das Gebiet gewinnbringender nutzen lässt, als es den Eidechsen zu überlassen? «Das Konfliktpotenzial zwischen Mensch und Natur ist in der Stadt besonders gross», sagt Gloor. Und es ist nicht immer einfach zu lösen. Die oft propagierte verdichtete Bauweise etwa mag sinnvoll sein, um nicht noch mehr Kulturland opfern zu müssen. Mit der Verdichtung der Städte werden aber auch die Gärten kleiner, es verschwinden Hecken und brach liegende Flächen – genau das, was viele Tiere brauchen.

Um die Artenvielfalt zu erhalten oder zu fördern, da sind sich Umweltfachleute einig, werden Städtebauplaner sich immer mehr auch die Frage stellen müssen, wo Platz bleibt für Grünräume und wie diese aussehen sollen. Denn mit etwas gutem Willen kommen Mensch und Tier auch in dicht besiedelten Gebieten gut miteinander klar, wie zwei Mauern am Letten-Bad exemplarisch aufzeigen: Die eine ist quasi dem Menschen vorbehalten. Sie ist betoniert und mit Graffiti vollgesprüht. Die andere, gleich daneben, besteht aus grossen Steinquadern. An einer Ecke prangt ein Schild mit einer grossen, roten Eidechse darauf. Darunter steht: «Diese Natursteinmauer ist das Zuhause von vielen Eidechsen. Spraylack und die entstehenden Gase gefährden sie ernsthaft.» Der Hinweis hat offenbar Erfolg: Graffiti sucht man auf der Eidechsenmauer vergebens. 

Mehr Infos unter www.stadtwildtiere.ch.