Das Südliche Gleithörnchen und der Kurzkopfgleitbeutler könnten glatt als Geschwister durchgehen: Beide sind kleine Baumbewohner mit einem grauen, weichen Fell und einem buschigen Schwanz. Und beide verfügen über ein ganz besonderes Körpermerkmal, das ihnen ihre Namen eingebracht hat: Die Flughaut, die sich zwischen den Vorder- und Hinterbeinen ausgebildet hat, wirkt wie ein Gleitschirm, wenn die Tiere von einem Ast zum nächsten springen.

Doch eigentlich haben die beiden Arten nichts miteinander zu tun: Das Gleithörnchen ist ein Säugetier, das in Amerika lebt. Der Gleitbeutler hingegen ist ein australisches Beuteltier. Der gemeinsame Vorfahr von Beuteltieren und Säugetieren lebte vor weit über 100 Millionen Jahren – und hatte keine Flughaut.

Das fast genau gleiche Merkmal hat sich also im Lauf der Evolution unabhängig voneinander zwei Mal entwickelt. Wie ist das möglich? «Eine solche sogenannte konvergente Evolution kann immer dann auftreten, wenn auf verschiedene Arten ein ähnlicher Selektionsdruck wirkt», sagt Walter Salzburger, Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Basel. Für hörnchenartige Baumbewohner etwa war es wohl von Vorteil, möglichst weit springen zu können – etwa um Feinden zu entkommen oder Nahrungsquellen zu erschliessen. Vielleicht stand bei einigen zufällig etwas Haut vom Körper ab und sorgte für einen etwas längeren Flug. Diese Tiere überlebten eher – und mit der Zeit entwickelte sich eine regelrechte Flughaut.

Flügel, Flossen, Linsenauge
Das Gleithörnchen und der Gleitbeutler sind nicht allein: Es gibt Hunderte von Fällen, in denen die Natur dasselbe mehrmals erfunden hat. Allein bei Säugetieren und Beuteltieren finden sich diverse solcher Analogien: Der inzwischen ausgestorbene Beutelwolf war das Pendant zu unserem Wolf. Die Beutelmarder ähneln unseren Mardern oder Katzen. Der Ameisenbeutler wiederum hat ebenso eine lange, klebrige Zunge wie die Ameisenbären in Mittel- und Südamerika. Und der Beutelmull wühlt mit zu Grabschaufeln umgestalteten Vorderbeinen durchs Erdreich, die jenen des europäischen Maulwurfs verblüffend ähnlich sehen.

Die wahrscheinlich bekanntesten Beispiele für konvergente Evolution sind die Flügel (bei Fledermäusen, Vögeln und Insekten) und der stromlinienförmige Körperbau mitsamt Flossen (bei Fischen, Walen und den ausgestorbenen Fischsauriern). Das Auge ist im Lauf der Evolution quer durchs ganze Tierreich mehr als 50 Mal entstanden. Tintenfische, Wirbeltiere, einige Quallen und gar Ringelwürmer haben gar allesamt das äusserst komplexe Linsenauge hervorgebracht, das Licht einfängt, es bündelt und ein Abbild der Aussenwelt liefert.

Entstünde der Mensch erneut?
Walter Salzburger kennt solche parallelen Entwicklungen auch aus seinem eigenen Arbeitsgebiet. Als Forscher beschäftigt er sich seit Jahren mit der Evolution der Buntbarsche in den grossen Seen Ostafrikas. Innert weniger Jahrtausende hat die Evolution dort, im Tanganjikasee und im Malawisee, unabhängig voneinander Dutzende von Barscharten hervorgebracht – einige mit erstaunlichen Ähnlichkeiten. «Es gibt zum Beispiel in beiden Seen längliche, barrakudaähnliche Raubfische, Algen raspelnde Fische oder solche mit dicken, fleischigen Lippen, die ihre Beute aus Löchern ziehen – alle sind jeweils unabhängig voneinander in den beiden Seen entstanden», sagt Salzburger.

Das wirft die Frage auf, ob die Entwicklung der Lebensformen auf der Erde vorhersehbar ist. Was würde passieren, wenn man die Zeit auf der Erde zurückspulen würde und die Evolution noch einmal von vorne beginnen müsste? Würden die gleichen Tierarten entstehen, wie wir sie heute kennen? Wo stünde der Mensch? Dieses Gedanken­experiment machte im Jahr 1990 der inzwischen verstorbene Paläontologe und Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould. Doch trotz der Vielzahl von doppelt und dreifach gemachten Erfindungen der Natur hielt er es für unwahrscheinlich, dass sich der «Film des Lebens», wie er es nannte, noch einmal eins zu eins abspielen liesse.

Walter Salzburger stimmt dem zu. «Das Prinzip der konvergenten Evolution ist zwar allgegenwärtig, aber nicht generell», sagt er. Denn die Natur zeigt immer wieder, dass sie zu ganz neuen, nie dagewesenen Entwicklungen fähig ist. Nicht umsonst staunen wir Menschen, wie es manche Mikroben schaffen, in ätzenden Säuretümpeln zu überleben, oder wie ein Pilz eine Ameise zu einem willenlosen Zombie umfunktionieren kann. Die Vielfalt gehört genauso zum Leben wie das Zurückgreifen auf Bewährtes.

Den Grund dafür, dass sich die Rezepte der Evolution immer mal wieder ähneln, sieht Salzburger darin, dass der Bauplan von Lebewesen für bestimmte Probleme nur eine überschaubare Anzahl von Lösungen zulässt. «Viele Entwicklungen sind wohl gar nicht möglich, weil zum Beispiel schon festgelegt ist, wie ungefähr die Entwicklung des Körpers von der Eizelle her ablaufen muss.»

Das ist wohl auch der Grund, weshalb Vögel, Fledermäuse oder Gleithörnchen eher einem Flugzeug ähneln als einem Helikopter: Entwicklungsbiologisch ist es halt einfach naheliegender, Arme oder Beine zu Flügeln oder Flughäuten umzufunktionieren, als aus ihnen Rotoren zu machen.