Schmetterlinge vollbringen mit ihrer Metamorphose von der pummeligen Raupe zum filigranen Flugakrobaten eines der grössten Kunststücke der Natur. Doch Schweizer Forscher befassen sich seit einigen Jahren mit einem noch wundersameren Phänomen aus der Welt der Schmetterlinge: deren regelmässigen Wanderflügen.

Genau wie Zugvögel reisen viele Schmetterlingsarten im Herbst in südlichere Gefilde, um der Winterkälte zu entrinnen. Dabei können sie Tausende von Kilometern zurücklegen. Sie müssen unter Umständen über Gebirge flattern, über Ozeane und Wüsten, bis sie endlich an ihrem Ziel sind. Viele Aspekte dieser Wanderflüge sind bis heute ein Rätsel. 

Vom Mittelmeer bis nach Skandinavien
In der Schweiz und im restlichen Europa gibt es mehrere Dutzend Arten von Schmetterlingen, welche diese Meisterleistung vollbringen. Zu ihnen zählen Tagfalter wie das Tagpfauenauge, der Kleine Fuchs oder der Distelfalter, aber auch Nachtfalter wie der Windenschwärmer, der Totenkopfschwärmer oder die C-Erdeule. Der prominenteste von ihnen ist der Admiral, der leicht an seinen roten Binden auf den Vorder- und Hinterflügeln erkennbar ist.

Dass der Admiral überhaupt zu den Wanderfaltern zählt, war bis in die 1980er-Jahre unbekannt. Lange vermuteten die Biologen, dass er in der Schweiz als Falter an einem geschützten Ort überwintert. Doch wie sich herausstellte, machen das nur die wenigsten Individuen. Die meisten treten Ende September und Anfang Oktober eine epische Reise in den Mittelmeerraum an. Das Team um Myles Menz von der «Community Ecology Division» der Universität Bern befasst sich mit den Zügen des Admirals. «Wir versuchen, seine Bewegungen über Europa zu verstehen», sagt Menz.

Der Admiral ist eigentlich ein Südländer. In Spanien, Italien und Frankreich vermehrt er sich das ganze Jahr über. Ein Teil der Population beginnt jedoch im Frühjahr in den Norden zu fliegen. Forscher nehmen an, dass sie damit neue Futtergründe erschliessen wollen. Die ersten Individuen erreichen die Schweiz ab März. Welche Route genau sie nehmen, ist nicht bekannt. «Vermutlich kommen sie von Süden direkt über die Alpen und von Westen über den Jura. Aber Genaues wissen wir nicht», sagt Menz. 

Ein Teil der Schmetterlinge bleibt in der Schweiz hängen. Die meisten von ihnen ziehen jedoch weiter. Ihr Ziel sind Gebiete in Skandinavien, über zweitausend Kilometer entfernt. Die Reise ist so lange und anstrengend, dass sie nicht während eines Falterlebens zu schaffen ist. Vielmehr ist es ein Generationenprojekt. Unterwegs paart sich der Admiral und legt bei jeder Etappe seine Eier auf Brennnesseln ab. Die erwachsenen Raupen verpuppen sich und aus den Puppen schlüpfen nach wenigen Wochen neue Schmetterlinge. Diese setzen die Reise ihrer inzwischen verstorbenen Eltern fort. Die Forscher vermuten, dass die zunehmenden Tageslängen den frisch geschlüpften Faltern anzeigen, dass sie nach Norden wandern sollen. 

Mit Farbstiften markiert
Die Admirale, die in der Schweiz bleiben und nicht weiterziehen, halten es bei uns zwei bis drei Generationen aus. «Ende August beginnt dann die Migration in den Süden», sagt Menz. Ihr Höhepunkt ist Ende September oder Anfang Oktober. Wie die Falter aus der Schweiz hinauskommen, ist noch nicht genau untersucht. Eine Route führt offenbar über den Alpenpass Col de Bretolet im Wallis an der Grenze zu Frankreich. Durch dieses Nadel­öhr fliegen jedes Jahr Hunderttausende von Admiralen. «Dort lassen sie sich während Tagen oder sogar Wochen gut beobachten», sagt Menz. 

Er und sein Team stehen mit Netzen bereit und fangen einige Tausend Tiere ein. Diese markieren sie mit Farbstiften und lassen sie danach wieder fliegen. Einen Alpenpass weiter lauern die Forscher den Faltern erneut auf, in der Hoffnung, einige der markierten Falter erneut einzufangen. Auf diese Weise können die Forscher in mühsamer Arbeit die Flugrouten rekonstruieren. Dabei sind sie auch auf die Hilfe der Öffentlichkeit angewiesen. Auf seiner Website ruft Menz interessierte Laien dazu auf, Beobachtungen von Schmetterlingen zu melden. Dazu eröffnet man am besten beim Beobachtungsportal ornitho.ch ein Benutzerkonto oder nutzt eine Beobachtungs-App, mit der sich die Koordinaten und die Schmetterlingsart erfassen lassen. Die Forscher haben Zugriff auf diese Daten und können so die Wanderungen der Falter in Echtzeit mitverfolgen.

Hochflieger und Tiefflieger
Für ihre Orientierung nutzen die Falter einen sogenannten zeitkompensierten Sonnenkompass. Mit ihren Augen können sie die Position der Sonne registrieren. Sie wissen, dass diese in ihrem Zenit genau nach Süden zeigt. Um den Süden auch morgens um zehn oder nachmittags um vier zu ermitteln, besitzen sie zudem eine innere Uhr. Mit ihr können sie die zeitliche Bewegung der Sonne am Himmel und der einhergehenden Veränderung ihres Winkels kompensieren. Es gibt Hinweise darauf, dass Schmetterlinge auch einen magnetischen Kompass besitzen, mit dem sie sich auch dann orientieren können, wenn Wolken die Sonne verdecken.

Eine der grössten Herausforderungen ist der Wind. Der kann je nach Richtung für einen kleinen Falter ein Segen oder ein Fluch sein. Um damit fertigzuwerden, gibt es grundsätzlich zwei Strategien. Es gibt Höhenflieger, die in erheblichen Höhen lange Strecken durchwandern, und Niedrigflieger, die bei den Wanderungen den Geländeänderungen treu folgen. Letztere fliegen dicht am Boden entlang und sind dadurch vom Wind geschützt. Auf diese Weise kommen sie ihrem Ziel auch bei Gegenwind näher. 

Anders sind da die Höhenflieger wie etwa die Gammaeule. Um Energie zu sparen, wählen sie eine Flughöhe von vierhundert bis achthundert Meter über Boden. Dort sind die Winde am stärksten. Dadurch können sie im Idealfall mit bis zu hundert Kilometern pro Stunde vorwärtskommen. Das geht jedoch nur dann, wenn der Wind in die gewünschte Richtung bläst. Andernfalls bricht die Gammaeule die Reise ab und wartet darauf, bis der Wind dreht. 

Manchmal treten die Falter auf ihrer Wanderung prominent in das Licht der Öffentlichkeit. Beim Final der Europa-Fussballmeisterschaft im Stade de France belagerten vor dem Anpfiff Tausende von Gammaeulen den Rasen. Die Insekten flogen um die Köpfe von Spielern und Schiedsrichtern, welche genervt mit den Armen fuchtelten. Dabei war ja nicht das Fussballspiel die eigentliche sportliche Höchstleistung an jenem Abend, sondern der Wanderzug der Gammaeule.