Vor nicht einmal 20 Jahren, im September 1997, wurde der erste Marderhund auf Schweizer Boden gesichtet. In Leuggern war das damals, im Nordosten des Aargaus, wo das Tier tot auf der Strasse lag. In der Zwischenzeit wurden einige weitere Exemplare gefunden. Auch sie alle tot – überfahren, ertrunken oder erschossen. Dieses Jahr schliesslich, Ende April, wurde erstmals ein lebender Marderhund fotografiert. Auf dem Bözberg, keine 20 Kilometer von Leuggern entfernt.

Das Foto zeigt einen etwa 60 Zentimeter langen Räuber mit einer «Maske» im Gesicht. Durchaus könnte er mit einem Waschbär verwechselt werden – einem weiteren Einwanderer, der sich allmählich in die Schweiz ausbreitet. Doch der Marderhund gehört zu den Caniden, den Hundeartigen, und ist der nächste Verwandte des Fuchses, mit dem er den Lebensraum auch in seiner ursprünglichen Heimat teilt.

Feuer frei auf den Eindringling
Der Marderhund ist eigentlich ein Asiate und stammt aus dem südöstlichen Russland sowie aus Japan und China. Seit gut 100 Jahren erobert er aber auch den europäischen Kontinent. Anders als der Fuchs hat er sich allerdings nicht auf eigene Faust verbreitet. Die Russen und später die Sowjets waren es, die Spass an der Jagd auf die Tiere und Gefallen an ihrem Fell fanden. Bis 1950 brachten sie Tausende der Tiere in den Westen ihres Landes und liessen sie dort zum Vergnügen der Jäger in den Wäldern frei. Dort vermehrten sich die Marderhunde rasch und breiteten sich in Richtung Westen aus. Heute stehen sie vor der Schweizer Grenze – manche trauen sich schon rein.

Dabei schlägt dem Marderhund hierzulande ein steifer Wind entgegen. Er gilt als potenziell invasives Neozoon, also als eingeschleppte Art, die möglicherweise der einheimischen Natur schaden könnte. Das heisst: Jeder Jäger, dem der Marderhund vor die Flinte läuft, darf – und soll – diesen abschiessen. Ob sich der Einwanderer künftig trotzdem in der Schweiz etablieren wird, mag Manuela von Arx von der Raubtier-Koordinationsstelle KORA nicht beurteilen. «Das wäre Kaffeesatzleserei», sagt sie.

Auch die Frage, ob der Marderhund tatsächlich zur Gefahr für die Fauna und Flora in der Schweiz würde, sei unklar. «Er hat ein ähnliches Nahrungsspektrum wie Fuchs, Dachs und Marder», sagt von Arx. Als Allesfresser ernährt er sich von Vögeln, Mäusen, Amphibien, Schnecken, aber auch von Aas und pflanzlicher Nahrung. «Wissenschaftlich weiss man wenig über die Auswirkung des Marderhundes auf andere Arten», sagt die Biologin. Man wolle jedoch in der Schweiz kein Risiko eingehen: «Seine Ausbreitung soll vorbeugend verhindert werden.»

Für einmal sind sich auch Jäger und Naturschützer einig: Sie wollen den Marderhund nicht in der Schweiz haben. Einzig die Argumente unterscheiden sich. In Jägerkreisen wird der Eindringling als Konkurrenz für die einheimischen Raubtiere gesehen, er könnte ihnen die Nahrung streitig machen. Beim WWF dagegen macht man sich Sorgen um die Beute des Marderhundes: «Erfahrungen im Ausland zeigen, dass der Marderhund eine Bedrohung für einheimische Vögel und Amphibien darstellen kann», sagt Gabor von Bethlenfalvy, Grossraubtier-Experte der Naturschutzorganisation. Und: «Da er hierzulande keine natürlichen Feinde hat, könnte er sich schnell ausbreiten, was es zu verhindern gilt.»

Wie schnell sich der Marderhund verbreitet, zeigt das Beispiel Deutschland. Dort ist sein Vormarsch längst nicht mehr zu stoppen. In den 1960er-Jahren wurden in Deutschland die ersten Marderhunde gesichtet. Damals noch vereinzelt. In den Neunzigern breiteten sie sich dann exponentiell aus und wurden zur Jagd freigegeben, doch es war zu spät. Im Rekordjahr 2008 wurden bundesweit mehr als 30 000 Exemplare abgeschossen, grösstenteils im Nordosten, aber die Populationen haben sich in ganz Deutschland ausgebreitet.

«Ihr müsst keine Angst haben»
Trotzdem widerspricht Frank G. Wörner den Argumenten aus der Schweiz: «Es ist noch nicht gelungen, ein einziges Tier aufzuzeigen, das durch den Marderhund bedroht oder ausgerottet wurde», sagt der deutsche Zoologe und Experte für Wölfe, Hunde und ihre Verwandten. Für ihn ist der schlechte Ruf des Tieres in Deutschland – vor allem bei Jägern – ungerechtfertigt. Denn: «Der Marderhund jagt nicht selektiv. Er frisst und sammelt alles, was ihm vor die Schnauze kommt.» Deshalb sei er keine Konkurrenz für andere Raubtiere und auch keine Gefahr für bedrohte Vögel oder Amphibien. «Die einzige Gefahr, die von ihm ausgehen könnte, ist die Tollwut», sagt Wörner. Diese gilt sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland als ausgerottet. Dass ein infiziertes Tier sie von Polen her einschleppt, sei undenkbar: «Das ist vorher tot.»

Wörner rät der Schweiz für den Umgang mit dem Marderhund deshalb zur Ruhe: «Ihr braucht da keine grosse Angst zu haben», sagt er. Und falls sich das Tier etablieren sollte, würde es die einheimischen Arten ihm zufolge nicht verdrängen. «Der Marderhund wird sich vermehren, bis er an die Kapazitätsgrenze seines Lebensraums kommt», sagt er. «Wenn nicht mehr genug Nahrung da ist, stellt er die Reproduktion ein oder dezimiert sich durch Seuchen selbst.» So wie vor drei Jahren, als der Ausbruch der Staupe den Marderhund-Bestand in Deutschland schrumpfen liess.

Doch auszurotten ist das eingewanderte Raubtier in unserem nördlichen Nachbarland nicht mehr. «Mittlerweile wächst die Population wieder an», sagt der Zoologe. Wenn die Schweiz den Marderhund nicht will, tut sie also gut daran, seine Ankunft frühzeitig zu verhindern. Und auch dann ist noch längst nicht klar, ob er nicht doch irgendwie einen Weg findet, sich dauerhaft in der Schweiz zu etablieren.

Gut bestückte Kultfigur

Bei uns fängt die Geschichte des Marderhundes gerade erst an, in Japan ist sie uralt. Tanuki heisst das Tier dort und ist in der Kultur des Landes fest verwurzelt.

Der Tanuki macht gerne Unsinn», sagt Daniela Tan, Japanologin an der Universität Zürich. «Er verwandelt sich in alles Mögliche und treibt Schabernack mit den Menschen.» In Fabeln und Geschichten aus der japanischen Unterhaltungskultur hat der Tanuki, wie der Marderhund dort heisst, eine grosse Bedeutung. Schon buddhistische Legenden aus dem 12. Jahrhundert erzählen von den speziellen Fähigkeiten des Tieres. Später zogen Wandermönche durch die Gegend und unterhielten die Bevölkerung mit Geschichten über den Gestaltwandler.

Während auch der Fuchs in der japanischen Folklore eine wichtige Rolle spielt und sich gerne in hübsche Frauen verwandelt, um Männer zu verführen, ist der Tanuki ein echter Schelm, der den Menschen als Laternenpfahl, Teetopf oder Statue Streiche spielt. «Solche Geistergeschichten mochten die japanischen Händler im 17. und 18. Jahrhundert besonders gerne», sagt Tan. Dem derben Geschmack des Publikums kommt auch eine dem Marderhund angedichtete Körpereigenschaft entgegen: Er ist laut Legenden untenrum äusserst gut bestückt. «Tanuki können mit ihren Hoden fliegen», sagt die Japanologin.

Noch heute werden die Marderhunde in Japan meist mit riesigen Hoden dargestellt. Durchs ganze Land verteilt stehen sie als Schreine vor Tempeln oder an Wegrändern. «Sie gelten als Hüter der natürlichen Kräfte», sagt Tan. «Menschen halten an den Schreinen inne, sprechen ein kurzes Gebet und spenden ein paar Münzen.» Vor vielen Restaurants in Japan stehen stilisierte Tanuki-Statuen mit kugelrunden Augen und verführen die Gäste mit einer Flasche Reiswein in der Hand zum Verweilen. Vielen japanischen Firmen dient ein gezeichneter Tanuki als Maskottchen und sogar in Europa hat jeder, der Videospiele mag, schon einmal Bekanntschaft mit dem Marderhund gemacht – wenn auch vielleicht unbewusst. In einigen der «Super-Mario»-­Spielen kann sich der schnäuzige Held nämlich in einen Tanuki verwandeln. Und dieser wiederum in eine Statue, die ihn unverwundbar macht.

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In Japan trifft man überall auf Statuen des Tanuki, wie der Marderhund dort genannt wird.
Bilder: Guilhem Vellut / Flickr.com; Jeremy Hall / Flickr.com