Dass Menschen eine sehr lange Kindheit haben, ist bekannt – schliesslich haben wir alle eine solche durchgemacht. Während der Kindheit hat man Zeit zum Lernen und Entdecken, zum Erfahrungen sammeln und sich Fertigkeiten anzueignen, die im späteren Leben von Nutzen sein werden. Eine lange Kindheit macht klug – Menschen haben im Vergleich zur Körpergrösse ein sehr grosses Gehirn. Auch bei anderen Tieren wie Elefanten, Walen oder anderen Primaten ist die Kindheit verlängert. Sie alle gelten als besonders intelligent.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena, der Universität Konstanz und aus Grossbritannien haben nun herausgefunden, dass sich auch Rabenvögel länger um ihre Jungen kümmern als andere Vögel – teilweise jahrelang – und dass die Eltern bei der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten eine entscheidende Rolle spielen. Seine Ergebnisse präsentierte das Team am 1. Juni in den «Philosophical Transactions» der britischen Royal Society.

Das berühmte Video der BBC, in dem eine Geradschnabelkrähe einen achtstufigen Geschicklichkeitstest besteht, um an ihr Futter zu kommen

[IMG 2]

Mehr Zeit im Nest, länger bei den Eltern
In der Studie verglichen die Forschenden Daten von den 127 Rabenvögeln der Welt mit denen mehrer Tausend anderer Singvogelarten. Dabei kam heraus, dass Rabenvögel – zu denen Raben, Krähen, Häher und Elstern gehören – viel grössere Gehirne haben verglichen mit der Körpergrösse, die auch meist grösser ist als bei andern Singvögeln. Ausserdem dauert es länger, bis die Eier ausgebrütet sind und junge Rabenvögel verbringen durchschnittlich doppelt so viel Zeit im Nest wie andere Singvögel und, nachdem sie flügge werden, eine ausgedehnte Zeit mit den Eltern.

Wie das konkret aussieht, beschreiben die Wissenschaftler mit zwei Beispielen aus der eigenen Feldforschung. Die grössten relativen Gehirne aller Vögel haben die Geradschnabelkrähen aus Neukaledonien, einem französischen Südsee-Domizil. Also reisten Mitglieder des Forscherteams dorthin, um sie zu beobachten. Bis zu drei Jahre bleiben junge Geradschnabelkrähen bei den Eltern und werden von diesen gefüttert. Ein Jahr brauchen sie, bis sie den gelernt haben, Werkzeuge herzustellen, mit denen sie an Futter gelangen können. Die Eltern dulden es auch, wenn ein Jungtier während der Futtersuche ein Werkzeug stibitzt, um es zu inspizieren.

Kolkraben beweisen, wie schlau sie sind

[IMG 3]

Geduldige Unglückshäher
In Schweden untersuchten die Forschenden das Familienleben von Unglückshähern. Diese leben in grösseren Familiengruppen, bestehend aus einem brütenden Elternpaar, nichtbrütenden Jungvögeln aus verschiedenen Jahren und manchmal sogar Jungvögeln aus einer andern Familiengruppe.

Die Nichtbrüter können bis zu vier Jahre bei den Eltern bleiben, ihnen genau zuschauen und von ihnen lernen, bevor sie losziehen und selber anfangen zu brüten. Je länger sie bei den Eltern bleiben, so fanden die Forschenden heraus, desto besser und schneller waren sie darin, verstecktes Futter zu finden und Raubfeinde zu erkennen, womit sich die Überlebenschance ihrer eigenen Familie erhöhte. Seinen Namen verdankt der Unglückshäher übrigens dem Umstand, dass sich der nordische Rabenvogel nur in besonders harten Wintern in Mitteleuropa blicken lässt. Er galt damit als Vorbote für schwere Zeiten.

Die verlängerte Kindheit, so glauben die Forscher, spiele eine Schlüsselrolle bei der Evolution von kognitiven Fähigkeiten, die bisher unterschätzt wurde. Genau so wichtig seien dabei die Eltern. Diese investieren viel in ihren Nachwuchs und haben hohe Kosten zu tragen. Familiengruppen leben deshalb oft an Orten, an denen viel Nahrung vorhanden ist. Über Generationen können die Jungtiere so immer kompliziertere Fertigkeiten erlernen, mit denen sie überlebenswichtige Ressourcen erschliessen und in neue Lebensräume vordringen können.

Wie Menschen lernen Rabenvögel zudem ihr Leben lang weiter. Auch dies, so die Forscher, sei eine Konsequenz der ausdauernden elterlichen Fürsorge.