Wenn die bloss zweieinhalb Millimeter kleine Schnecke Tornatellides boeningi von einem Japanbrillenvogel oder einem Orpheusbülbül verspeist wird, gibt es zwei Szenarien, die sich abspielen können. Das erste ist prosaisch: Die Schnecke endet als ganz normaler Snack und wird im Vogeldarm verdaut. Das zweite ist für die Beute weitaus erfreulicher: Japanische Forscher haben nämlich beobachtet, dass rund 14 bis 16 Prozent der Schnecken die Vogeldärme ohne Schaden passieren – der Vogel scheidet sie nach 20 bis 120 Minuten unversehrt wieder aus.

Für die einzelne Schnecke ist es also eine äusserst riskante Angelegenheit, von einem Vogel gefressen zu werden. Für die Art als Ganzes könnte es allerdings sogar Vorteile haben: Der Transport im Darm ist eine effektive Reisemethode, die dazu führt, dass sich die Schneckenart in ihrer Heimat, der rund 20 Quadratkilometer grossen Insel Hahajima, rasch verbreitet. Es erklärt auch, weshalb Tornatellides boeningi auf der Insel eine gut durchmischte Population bildet: Selbst in isolierten Gebieten landen immer wieder neue Tiere, was das Inzuchtrisiko vermindert.

Flugreise in der Ente
Ein Grund dafür, dass einigen dieser Schnecken der Aufenthalt im Vogeldarm nichts anhaben kann, ist ihre geringe Grösse. Sie verhindert im besten Fall, dass das schützende kegelförmige Gehäuse zerbricht. Forscher vermuten zudem, dass die Weichtiere den Eingang zu ihrem Gehäuse mit einer Schleimschicht verschliessen, die sie vor den ätzenden Verdauungssäften schützt.

Pflanzen nutzen die sogenannte Verdauungsausbreitung häufig. Als Endochorie bezeichnen Wissenschaftler den Vorgang, bei dem Tiere zum Beispiel Früchte fressen und die unverdaulichen Samen später ausscheiden. Auch unter Tieren, insbesondere solchen, die im Wasser leben, könnte dieses Phänomen weiter verbreitet sein als lange angenommen. Darauf deuten zum Beispiel die Untersuchungen des Niederländers Caspar van Leeuwen von der Universität Utrecht hin. Er verfütterte vor einigen Jahren vier Arten von Wasserschnecken an Stockenten. 

Es zeigte sich, dass das längst nicht für alle Schnecken das Todesurteil bedeutet. Die Gemeine Wattschnecke konnte bis zu fünf Stunden im Verdauungstrakt der Vögel verweilen, bevor sie ihn bei voller Gesundheit wieder verliess. Theoretisch, so die Berechnungen van Leeuwens, könnte die Schnecke in dieser Zeit, abhängig vom Flugverhalten der Ente, bis zu 300 Kilometer zurücklegen. 

Dass Schnecken die Passage durch den Entendarm überleben konnten, schreibt van Leeuwen auch der Tatsache zu, dass Enten schlechte Futterverwerter sind und 25 bis 50 Prozent ihrer Nahrung unverdaut wieder ausscheiden.

Wie viele andere Wassertierarten neue Lebensräume erobern, indem sie im Darm von Räubern reisen, ist erst wenig erforscht. Aber schon seit 1979 weiss man, dass weibliche Muschelkrebse, die vom Weissen Sauger, einem nordamerikanischen Süsswasserfisch, gefressen werden, zum Teil überleben und sich anschliessend fortpflanzen können.

Im Schneckendarm zur Futterstelle
Auch die Fadenwürmer Caenorhabditis elegans sind häufig per Anhalter unterwegs. Wissenschaftler der Universität Kiel fanden quicklebendige Exemplare verschiedener Lebensstufen in den Verdauungstrakten von Nacktschnecken, Asseln und Tausendfüsslern. Sie werden wahrscheinlich zusammen mit pflanzlichem Material gefressen und können sich im Verdauungstrakt sogar vermehren. Zudem vermuten die Forscher, dass die Bakterien und Mikroorganismen im Verdauungstrakt von Schnecken und Co. für die Fadenwürmer eine willkommene Nahrungsquelle sein könnten.

Das ungewöhnliche Transportmittel ist für die nur rund einen Millimeter grossen Nematoden lebenswichtig. Denn die Fadenwürmer fressen überwiegend verrottende Früchte und anderes Pflanzenmaterial. Da sich Nahrungsangebot und auch die Umgebungstemperatur an einem Standort schnell verschlechtern können, müssen sie häufig und relativ schnell umziehen – für die recht unbeweglichen Tiere alleine kaum zu bewerkstelligen. Da sie im Verdauungstrakt nicht länger als einen Tag lang überleben, müssen sie für längere Strecken allerdings zwischendurch das «Taxi» wechseln. Negative Auswirkungen auf ihre Wirte scheinen die kleinen Mitfahrer nicht zu haben.

Schlange kriecht aus Frosch
Dass grössere Wirbeltiere gefressen werden und überleben, ist eigentlich sehr unwahrscheinlich. Denn im Normalfall wird das Opfer schon vor dem Verschlingen tot gebissen oder gewürgt. Spätestens aber stirbt es durch die Magensäure oder den Sauerstoffmangel im Verdauungstrakt. Umso überraschter waren der britische Forscher Mark O’Shea und sein Team, als sie vor einigen Jahren bei einer Exkursion in Osttimor zufällig beobachteten, wie sich eine Brahmanen-Wurmschlange aus der Kloake einer Schwarznarbenkröte schlängelte. 

Ob sich die ungiftige Schlangenart, die zu der Familie der Blindschlangen gehört und maximal 23 Zentimeter lang wird, dabei aktiv in Richtung Ausgang bewegte oder ihre schnelle Befreiung eher den starken Darmbewegungen der Kröte zu verdanken hatte, war nicht auszumachen. Dass sie überlebt hatte, lag wohl an einigen glücklichen Umständen. Offenbar hatte die Schwarznarbenkröte, die in Asien weit verbreitet ist und gemeinhin als sehr guter Jäger gilt, die Schlange eilig und ohne grossen Kieferdruck hinuntergewürgt. So konnte die auch als Blumentopfschlange bekannte Blindschlange die erste Hürde unbeschädigt überstehen. Vielleicht waren Magen und Darm der Amphibie so leer, dass die Passage ohne Sauerstoff nur wenig Zeit in Anspruch nahm. Und ihre Hornschuppen schützten sie vor der Magensäure. 

Allerdings war das Happy End nur von kurzer Dauer: Siebeneinhalb Stunden nach der überraschenden Befreiung starb das Opfer, vermutlich an den Folgen des Sauerstoffmangels oder der Magensäure. Dank des anfänglich so vitalen Eindrucks des Reptils nehmen die Forscher trotzdem an, dass es für die Schlange grundsätzlich möglich wäre, ein solches Vorkommnis länger zu überleben. Das könnte auch erklären, warum gelegentlich lebende Blindschlangen in Eulennestern gefunden werden.

Für die Angreifer ist es in der Regel nicht mehr als eine unfreiwillige Diät, wenn ihr Opfer den Darmtrakt lebendig verlässt. Schlimmer kann es für einen Ochsenfrosch enden, wenn er einen Rauhäutigen Gelbbauchmolch verschluckt. Die nordamerikanische Salamanderart ist nämlich so giftig, dass der Frosch in der Regel stirbt, bevor seine eigenen Verdauungssäfte ihren Job machen können. Der Molch verlässt den Körper seines Feindes anschliessend aber nicht durch den Hinterausgang, sondern klettert aus dem Maul heraus.