Mit Mord und Totschlag lassen sich ganze Boulevardblätter füllen. Meist geht es dabei um menschliche Verfehlungen. Nur ganz selten rutscht eine Kriminalmeldung aus dem Tierreich in die Zeitungsspalten. So wie am 9. Februar des letzten Jahres, als der «Blick» titelte: «Orang-Utan-Männchen begeht Auftragsmord».

Eine Forscherin der Universität Zürich hatte im Regenwald der südostasiatischen Insel Borneo folgende Szene beobachtet: Das Orang-Utan-Weibchen Kondor trifft auf Männchen Ekko und paart sich mit ihm. Als die Rivalin Sidony vorbeizieht, bricht Kondor den Akt ab und wendet sich gegen sie. Ekko unterstützt sie. Das Duo verfolgt Sidony, schneidet ihr den Fluchtweg ab. Angestiftet von seiner Gespielin, greift Ekko Sidony an und verletzt sie in einem 33-minütigen Kampf so stark, dass sie zwei Wochen später stirbt («Tierwelt Online» berichtete).

Dass ein Affe eine Artgenossin tötet, mag aus menschlicher Sicht verurteilenswert klingen – schliesslich ahnden moderne Staaten Tötungsdelikte mit hohen Strafen. Doch solches Verhalten ist im Tierreich weit verbreitet. In einer letztes Jahr im Fachmagazin «Nature» publizierten Studie haben spanische Forscher für 1024 Säugetierarten untersucht, ob und wie häufig tödliche Gewalt gegen Artgenossen beschrieben ist. Demnach kommen inner­artliche Tötungen bei rund 400 der untersuchten Arten vor. Bei Erdmännchen sowie einigen Meerkatzen und Makis geht gar jeder fünfte bis siebte Todesfall auf den Angriff eines Artgenossen zurück (siehe Grafik). Besonders gewalttätig sind laut den Forschern Primaten, zu denen alle Affen, die Lemuren und die Loriartigen zählen.

Der Primatenforscher Carel van Schaik, Leiter des Anthropologischen Instituts an der Universität Zürich, teilt diesen Befund – hält aber trotzdem nicht viel von der spanischen Studie. «Es gibt ganz verschiedene Arten von solch tödlichen Aggressionen – und jede hat ihre eigenen biologischen Wurzeln», sagt er. Trotzdem würden sie in der Untersuchung alle in einen Topf geworfen. «Spannend», sagt van Schaik, «wird es aber erst, wenn wir den Gründen für solche Verhaltensweisen auf den Grund gehen.»

Die Weibchen wehren sich erfolgreich
Zum Beispiel dem sogenannten Infantizid: Bei Löwen, Bären, Schimpansen, Ratten und vielen anderen Tieren fallen manchmal Jungtiere den Angriffen ausgewachsener Artgenossen zum Opfer. «Der Grund dafür ist meist derselbe», sagt van Schaik. «Ein fremdes Männchen will sich möglichst rasch mit der Mutter des Jungtieres fortpflanzen.» Weibchen, die Junge säugen, sind nämlich bei manchen Tierarten nicht paarungsbereit. Nach einem Verlust der Jungtiere aber stellt sich ihr Körper um – sodass sie rascher wieder trächtig werden können. «Bei genau diesen Arten tritt Infantizid auf», sagt van Schaik. «Bei den meisten Arten hingegen können Weibchen gleichzeitig schwanger sein und ihre Nachkommen säugen; hier finden wir das Verhalten nicht.» Denn in diesem Fall bringt es dem Männchen keinen Vorteil, wenn es die fremden Jungtiere tötet.

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Bei manchen Tierarten kommt es öfter zu Kindstötungen, Rang- und Territorialkämpfen als bei anderen. Hier die 20 Arten mit dem höchsten Anteil von Todesfällen, die von Tieren derselben Art verursacht wurden.
  Grafik: Andreas Zangger, Quelle: Gomez et al., Nature

Unter den Primaten tritt Infantizid laut van Schaik bei rund 60 Arten auf. Bei Indischen Languren etwa könne man schön aufzeigen, dass ein wichtiger Grund dafür das Sozialverhalten sei. Diese Schlankaffen leben meist in Gruppen, bei denen sich ein Männchen einen Harem hält. Wird es vertrieben oder getötet, schaltet sein Nachfolger – wie bei den Löwen – die Jungtiere aus. Allerdings gibt es innerhalb einiger Langurenarten sowohl Einzelharems als auch solche, in denen mehrere Männchen mit Weibchen zusammenlebten. «In diesen gemischten Gruppen gibt es weniger häufig Infantizid», sagt van Schaik. «Denn die untergeordneten Männchen schützen die Jungen vor einem neuen Alphatier.»

Für die Weibchen sind die Kindstötungen selbstredend alles andere als erwünscht. Sie haben im Lauf der Evolution verschiedene Gegenstrategien entwickelt. So paaren sie sich bei vielen Arten mit mehreren Männchen, oft innert kurzer Zeit. Die Herren der Schöpfung bleiben dadurch im Ungewissen, wer der Vater eines Neugeborenen ist. Weil es ihr eigenes sein könnte, scheuen sie sich, es zu töten. «Das funktioniert aber natürlich nicht, wenn ein fremdes Männchen eine Gruppe übernimmt», sagt van Schaik. «Und es klappt auch nur, weil die Männchen einem Jungen nicht ansehen, von wem es stammt.» 

Eine andere Strategie der Weibchen ist es, den Vater dazu zu bringen, sein Junges zu schützen – so lange, bis es sich selbst verteidigen kann. «Insgesamt», sagt van Schaik, «ist Infantizid im Tierreich nicht besonders häufig – die Gegenmassnahmen scheinen also relativ erfolgreich zu sein.»

Mensch macht Orang-Utans aggressiv
Eine zweite Art von innerartlichen Tötungen ist der Kannibalismus, also das Verspeisen von Artgenossen. Sie ist allerdings sehr selten und tritt meist als Nebeneffekt von Infantiziden auf: Statt den Kadaver eines getöteten Jungtieres liegen zu lassen, entscheidet sich ein Männchen, es auch noch zu fressen.

Viel häufiger kommt es zu Toten, wenn Männchen einer Gruppe sich Rangkämpfe liefern. Auch hier sei die Sozialstruktur entscheidend, sagt van Schaik. Und auch hier geht es meist um Sex. Heftige Rangkämpfe gibt es typischerweise bei Arten, bei denen sich ein dominantes Männchen mit vielen Weibchen paart. In monogamen Gruppen dagegen lebt es sich friedlicher, weil man ja nicht unbedingt mehr Kinder zeugt, bloss weil man einen Rivalen aus dem Weg räumt. 

Auch äussere Bedingungen können Aggressionen beeinflussen, wie van Schaik sagt. Die Orang-Utans in Borneo etwa, die er seit mehr als 40 Jahren erforsche, seien Artgenossen gegenüber eigentlich relativ gutmütig. «Aber in den letzten Jahren haben wir plötzlich mehrere Fälle beobachtet, in denen sich Männchen tödliche Kämpfe geliefert haben.» Er führe dies auf die Abholzung des Regenwaldes zurück. «Die Männchen werden in den noch verbleibenden Gebieten zusammengedrängt und können einander weniger gut aus dem Weg gehen.»

Der vom Orang-Utan-Männchen Ekko verübte «Auftragsmord» – er wurde von einer Doktorandin van Schaiks dokumentiert – sei hingegen ein «komischer Fall». «In 50 Jahren Jahren Orang-Utan-Forschung hat man so etwas noch nie beobachtet.» Dass das Weibchen ihre Rivalin nicht selbst tötete, hat laut van Schaik übrigens einen einfachen Grund: Sie hätte es nicht gekonnt. «Die Eckzähne von Orang-Utan-Weibchen sind im Gegensatz zu jenen der Männchen nur klein – ihnen fehlen schlicht die Waffen, um Artgenossen zu töten.»

Krieg der Schimpansen
Tiere die zusammenspannen, um Artgenossen umzubringen, das gibt es auch bei Schimpansen. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall beobachtete in den 1970er-Jahren im Gombe-Nationalpark in Tansania gar eine Art Krieg zwischen zwei rivalisierenden Gruppen. Im Verlauf der vier Jahre dauernden Fehde tötete der Kasakela-Clan sämtliche Männchen und fast alle Weibchen des benachbarten Kahama-Clans.

Der «Schimpansenkrieg von Gombe» dauerte vier Jahre (Video: Altered Dimensions):

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Zuerst hätten Forscher geglaubt, dieser als «Schimpansenkrieg von Gombe» in die Geschichte eingegangene Konflikt sei durch menschliches Zutun entstanden, sagt van Schaik. «Goodall hatte die Schimpansen angefüttert.» Doch inzwischen hätten viele Studien das Verhalten bestätigt. «Wo immer man Schimpansen über längere Zeit beobachtet, sieht man solche Kriege.» Faire Kämpfe sind es nicht. Praktisch immer sei die eine Gruppe klar in der Überzahl, sagt van Schaik. «Im Schnitt sieben gegen einen. Je einer hält einen Arm oder ein Bein, die anderen beissen und reissen – es ist absolut grausam.» Bis heute verstehe niemand, weshalb es die Schimpansen nicht dabei beliessen, die gegnerische Gruppe zu vertreiben, sondern sie vernichteten.

Nicht nur den Laien, auch den Experten erinnern solche Gräueltaten unbehaglich an uns Menschen. «Das Verhalten der Schimpansen ist wirklich das Äquivalent menschlicher Kriege», sagt van Schaik. «Das ist umso beunruhigender, als es sich um unsere nächsten Verwandten handelt.» Er warnt allerdings vor der Schlussfolgerung, das Morden und Kriegen liege in der menschlichen Natur. «Wir können nicht verleugnen, dass der Mensch eine Art Prädisposition für gewalttätiges Verhalten hat, aber das heisst noch lange nicht, dass es ausbrechen muss.» Soziale, politische und kulturelle Normen würden diese Veranlagung zur Gewalt begrenzen. Und es sei nicht nur die Ächtung und Bestrafung von Gewalttätern, die uns von Schimpansen unterscheide, sagt van Schaik. «Wir treiben zum Beispiel Handel mit anderen Gruppen und Gesellschaften. Greifen wir sie an, verlieren wir Handelspartner und damit einen Teil unserer wirtschaftlichen Grundlage.» Globalisierung also, so vielleicht die gute Nachricht, könnte mithelfen Kriege zu vermeiden.

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