Der Weltstar der tierischen Musikszene kommt aus dem südamerikanischen Regenwald und ist auf den ersten Blick eher unscheinbar. Das ändert sich allerdings, wenn der Flageolettzaunkönig sein winziges Schnäbelchen öffnet. Dann nämlich, so erzählt es zumindest eine brasilianische Legende, verstummen sogar die anderen Vögel, um besser lauschen zu können.

Ob das stimmt, darf angezweifelt werden. Fest steht aber, dass der kleine Vogel so wunderbar singt, dass 1917 der brasilianische Komponist Heitor Villa-Lobos ein ganzes Ballettstück mit dem  Namen «Uirapuru» (der portugiesische Name des Flageolettzaunkönigs) schrieb. Spätestens seit einer Studie aus dem Jahr 2013 ist der gefiederte Sänger auch international bekannt. Die amerikanische Komponistin und Musikwissenschaftlerin Emily Doolittle und der deutsche Biologe Henrik Brumm fanden in seinen Liedern unter anderem Passagen, die «geradezu verblüffende Ähnlichkeiten mit Motiven haben, die zum Beispiel Bach und Haydn in ihren Kompositionen verwendet haben». Flageolettzaunkönige singen in harmonisch klingenden Intervallen wie Oktaven, Quinten und Quarten, die in vielen Kulturen als harmonisch und wohlklingend empfunden werden. Natürlich zwitschern nicht alle Vögel im Stil grosser Komponisten. Doolittle und Brumm schreiben, dass von den rund 4000 verschiedenen Singvogelarten jede ihre eigene Art zu singen habe. Einige seien gar – für unsere Ohren – geradezu unmusikalisch. 

Hier singt der Flageolettzaunkönig:

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Inspiration schon für Beethoven
Trotzdem muss man nicht bis in den südamerikanischen Regenwald reisen, um wohlklingende Tiermusik zu hören. Egal, ob in den Bergen, an einem Teich oder im eigenen, naturnahen Garten: Wo es noch Lebensräume für Wildtiere gibt und der Stadt- und Verkehrslärm nicht alles übertönt, fügen sich auch hierzulande je nach Region, Jahres- und Tageszeit Vogelgezwitscher, das Quaken der Frösche und Zirpen der Feldgrille, unterlegt vom Plätschern eines Flusses und dem Rascheln der Blätter, zu einem einzigartigen, natürlichen Symphonieorchester.

 

Nicht nur Naturliebhaber, auch Musiker verschiedener Epochen und Stilrichtungen konnten und können sich der Schönheit natürlicher Klanglandschaften kaum entziehen. Im zweiten Satz seiner sechsten Symphonie, der «Szene am Bach», liess Beethoven den Gesang der Nachtigall von der Flöte wiedergeben, die Oboe imitiert die Wachtel, zwei Klarinetten den Kuckuck. Der 1926 geborene US-Amerikaner Georg Crumb holte mit «Vox Balaenae (Voice of the Whale)» 1971 den Gesang der Wale, gespielt von Flöte, Cello und Klavier, auf die New Yorker Bühne. Inzwischen binden immer mehr Künstler Originalaufnahmen von Tierstimmen in ihre Werke ein. 1978 spielte der Amerikaner Paul Winter in seinem Album «Common Ground» zum Heulen der Timberwölfe Saxofon. 

Die «Szene am Bach» von Beethoven:

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Eines der aktuellsten und beeindruckendsten Werke, in denen die Grenzen zwischen tierischer und menschlicher Musik so fliessend sind, dass sie sich fast aufzulösen scheinen, ist das 2014 uraufgeführte «Great Animal Orchestra Symphonie für Orchester und wilde Soundscapes». Gibbon-Rufe werden von Streichern und der Flöte fortgesponnen, das «Brummen» der Elefanten vermischt sich mit dem Kontrabass, das Heulen der Wölfe mit dem Waldhorn. Zu hören sind unter anderem auch ein Froschchor, das Klagelied amerikanischer Biber, Spechte, Wale, der Flageolettzaunkönig und der Urutau-Tagschläfer, ein Vogel aus dem tropischen Amerika, der unserem Ziegenmelker ähnelt.

Verantwortlich für dieses Klangkunstwerk: Komponist Richard Blackford und Naturforscher Bernie Krause, einst Mitbegründer der elektronischen Musik. Nachdem der heute 67-jährige Amerikaner die Faszination der Naturgeräusche eher zufällig bei einem Auftrag von Warner Brothers entdeckt hatte, kehrte er im Alter von 40 Jahren Hollywood den Rücken, promovierte in Creative Arts über marine Bioakustik und sammelte seither 4000 Stunden Tonmaterial mit den Geräuschen von über 15 000 Tierarten aus aller Welt. «Man könnte meinen, ich hätte die Welt der Musik für die Welt der Naturgeräusche aufgegeben. Aber ich habe sie dort erst wirklich entdeckt», sagt Krause, einer der wenigen Vertreter der recht jungen Forschungsdisziplin der Zoomusikologie, die sich mit tierischen Lautäusserungen beschäftigt, die man eher als Musik denn als Kommunikation bezeichnen würde.

Gibbonstimmen und klassische Musik gibt's bei Richard Blackford und Bernie Krause:

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Die Natur als Musiklehrer Bis noch vor etwa 30 Jahren galt Musik gemeinhin als rein menschliches Phänomen. Inzwischen sind sich die meisten Biologen und Musikwissenschaftler einig, dass diese Annahme falsch war. Viele andere Fragen, die die Zoomusikologie aufwirft, konnten noch nicht beantwortet werden. So weiss man zwar, dass Tiere Gesang unter anderem zur Partnersuche einsetzen. Ob aber etwa der Flageolettzaunkönig ein Konzept von Melodie, Tonart und Schönheit eines Musikstückes hat, ist unklar. 

Könnten die Rhythmen der Wildnis gar der Ursprung aller Musik sein? Krause und andere Wissenschaftler denken ja. «Wir vergessen, dass auch Menschen Tiere sind, und als solche schätzen wir die Schönheit im nichtmenschlichen Leben, das uns umgibt», sagt er. Wenn wir in der Natur Gleichklänge erlebten, akzeptierten wir diese als schön oder als geeignet, um sie in unsere Kunst einzubeziehen. Im Lauf der Evolution habe der Mensch Wege finden müssen, um seine Gefühle und Gedanken auszudrücken. «Als Grundlage nutzten wir, was wir in der Natur sahen, hörten und fühlten und lernten auf dieser Basis zu tanzen, singen und sprechen.»  

Menschen, sagt Krause, hätten einen angeborenen Drang zur Mimikry, hätten also das Flöten, Trommeln und Trompeten der Wälder imitiert – erst mit der Stimme, dann mit Instrumenten. Zu dieser Theorie passt eine rund 40 000 Jahre alte Geierknochen-Flöte, die in einer deutschen Höhle gefunden wurde. «Die fünf hineingeschnitzten Löcher erzeugen eine grobe pentatonische Tonfolge. Die pentatonische Tonleiter selbst stammt direkt aus der Wildnis und spiegelt nicht nur die prächtigen Biophonien des Waldes wider, sondern auch bestimmte Solisten wie den Urutau-Tagschläfer, einen nachtaktiven Vogel aus Zentral- und Südamerika», sagt Bernie Krause, der mit «Das grosse Orchester der Tiere» ein kurzweiliges Buch über die Klänge aus der Natur und zugleich ein flammendes Plädoyer für ihren Erhalt geschrieben hat. 

Denn viele Klänge gibt es nur noch in Krauses Archiv: Rund die Hälfte aller Habitate, aus denen seine Aufnahmen stammen, existiert heute nicht mehr. 

Literaturtipp: 
Bernie Krause: «Das grosse Orchester der Tiere – Vom Ursprung der Musik in der Natur»,
Malik/National Geographic,
ISBN 978-3-492-40557-7,
ca. Fr. 22.–