Eishai
Methusalem der Meere
Eishaie können mehrere Hundert Jahre alt werden, haben halluzinogenes Fleisch und setzen bei der Jagd eher auf Hypnose als auf Tempo. Wissenschaftler lüften immer mehr Geheimnisse um diese unheimlichen Knorpelfische.
Sie sind bis zu sieben Meter lang, haben giftgrüne Augen und ein Revolvergebiss. Erst 1801 wurden sie wissenschaftlich beschrieben. Und in jüngster Zeit macht die geheimnisvolle Spezies aus den arktischen Gewässern des Nordatlantiks in der Fachwelt Furore – denn kein anderes Wirbeltier erreicht ein so hohes Alter wie der Eishai (Somniosus microcephalus), auch Grönlandhai genannt.
Die Vermutung gab es schon länger: Mitte des 20. Jahrhunderts fingen dänische Forscher vor Grönland ein 2,62 Meter langes Exemplar und markierten es. Als man denselben Hai 16 Jahre später erneut aus dem Wasser zog, war er gerade mal acht Zentimeter länger. Bei so langsamem Wachstum müssen die grössten Eishaie uralt sein, spekulierten Wissenschaftler. Doch Beweise fehlten.
Eine der ersten Filmaufnahmen eines Eishais. Lesen Sie hier, wie das Video entstand (Video: Brynn Devine):
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Bei vielen Fischarten lässt sich das Alter anhand von Wachstumsringen bestimmen, die man an Flossenstacheln ablesen kann, ähnlich wie Jahresringe bei Bäumen. Das Skelett von Eishaien aber besteht ausschliesslich aus Knorpeln und bildet keine solchen Ablagerungen aus. Dennoch gelangen dem Meeresbiologen Julius Nielsen von der Universität Kopenhagen kürzlich erste Altersbestimmungen. Er und sein Team nutzten die Radiokarbonmethode, bei der man in organischem Material den Anteil des Kohlenstoffisotops C-14 misst, das im Lauf der Zeit radioaktiv zerfällt, und so auf das Alter schliessen kann.
Mehr als 500 Jahre alt?
Beim grössten Eishai, den sie untersuchten – er war mehr als fünf Meter lang – ermittelten die Forscher ein Alter von 392 Jahren. «Das ist aber nur eine Annäherung», erklärt Nielsen. «Die Unsicherheit beträgt, nach oben und nach unten, 120 Jahre.» Selbst wenn man vom niedrigsten möglichen Wert ausgeht, und der Hai «nur» 272 Jahre alt gewesen sein sollte, wäre das Weltrekord im Reich der Wirbeltiere, wo ein Grönlandwal mit 221 Jahren den bisherigen Spitzenwert markierte. Denkbar ist jedoch auch, dass der grösste Eishai mehr als ein halbes Jahrtausend auf dem Buckel hatte – und in jungen Jahren etwa ein Zeitgenosse des Reformators Ulrich Zwingli war.
Hier schwimmen gleich zwei Eishaie vorbei (Video: Brynn Devine):
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Auch andere Lebewesen erreichen in arktischen Gewässern, wo die Temperaturen oft gerade mal bei zwei Grad liegen, ein sehr hohes Alter. Denn bei sehr niedrigen Temperaturen läuft der gesamte Stoffwechsel gleichsam auf Sparflamme. Darüber hinaus sind Eishaie Kaltblüter, sehr gross und teilen ihre Kräfte gut ein. Das alles begünstigt ein langes Leben. Die Suche nach Besonderheiten in ihrem Erbgut hat unlängst begonnen, 2016 wurde das Eishai-Genom entschlüsselt.
Immer mehr finden Wissenschaftler über diese Tiere heraus: Lange galten sie als schwerfällige Kolosse, die sich, zu phlegmatisch um zu jagen, von Aas ernähren, das zum Meeresboden hinabsinkt. Auf Englisch heissen sie sleeper sharks – Schläferhaie. «Doch vieles deutet inzwischen darauf hin», sagt die Meeresbiologin Kit Kovacs vom Norwegischen Polarinstitut in TromsØ, «dass Eishaie clevere Jäger sind.»
Gemächlich wie ein Grossmütterchen
Wittert ein Weisser Hai Beute, taucht er in die Tiefe ab und schiesst dann blitzschnell nach oben. Tigerhaie dagegen jagen in Gruppen und umzingeln ihre Beute. Makohaie schliesslich bringen es auf Spitzengeschwindigkeiten von 70 Stundenkilometern und erbeuten im Spurt sogar Thunfische, die erstklassige Schwimmer sind. Aber Eishaie?
Eindrucksvoll ist ihr Revolvergebiss: Fallen ihnen Zähne aus, können diese – wie die Patronen bei einem Revolver – nachgeladen werden. Hinter jedem Zahn sind Ersatzzähne aufgereiht, die bei Bedarf einfach nach vorne geklappt werden. Ob Eishaien diese Waffe beim Jagen allerdings viel hilft, ist eine andere Frage. Messungen mit Mikrosensoren haben unlängst nämlich ergeben, dass ihre Spitzengeschwindigkeit bei gerade mal 2,6 Stundenkilometern liegt – was etwa dem Schritttempo einer Oma an Land entspricht.
Und dennoch: Als Forscher vor wenigen Jahren die Mageninhalte von 39 Eishaien analysierten, konnten sie nachweisen, dass es sich bei dieser Spezies mit Sicherheit um keine reinen Aasfresser handelt. Die Haie hatten viel zu viele Robben verputzt, als dass sie diese als Kadaver hätten auflesen können. Solch flinke Meeressäuger sind sogar die Hauptnahrungsquelle von Eishaien, vermuten Experten inzwischen. Zum Schlafen legen sich Robben häufig auf den Meeresgrund – und fallen vor allem dann Eishaien zum Opfer. Anders als etwa bei Walen, ruhen bei Seehunden, Ringel- oder Bartrobben im Schlaf nämlich beide Gehirnhälften, was sie zu einer leichten Beute macht.
Als Kit Kovacs und ihre Kollegen den Mageninhalt weiterer Eishaie untersuchten, stiessen sie auch auf Kraken, halb verdautes Walfleisch und viele Fische, die unzerkaut verschluckt worden waren: zum Beispiel einen 8,6 Kilogramm schweren Seewolf. Der Instinkt vieler Meeresbewohner scheint Eishaien in die Hände zu spielen. «Seewölfe und andere Fische haben die Tendenz, ihr Revier auch gegen grössere Tiere zu verteidigen», erklärt die Meeresbiologin. «Und Eishaie können in ihrem Körper einen Unterdruck erzeugen, und so, wenn sie das Maul öffnen, eine starke Sogwirkung erzielen.» Sie ist überzeugt, dass auf diese Weise auch riesige Opfer eingesaugt werden.
Selbst dass Eishaie ihre Augen zur Hypnose von Beutetieren nutzen, wie alte Legenden aus dem Norden nahelegen, erscheint Fachleuten nicht aus der Luft gegriffen. In den Augäpfeln von Eishaien fanden sie nämlich Parasiten: sogenannte Ruderfusskrebse. Diese Tiere fluoreszieren und sind wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass die Augen der Haie in der Dunkelheit leuchten – und dadurch Beute anlocken.
Die einzige Gefahr ist der Mensch
Unstrittig ist, dass Eishaie selbst keine Raubtiere fürchten müssen. Mit Ausnahme des Menschen. Jahrhundertelang hatten es Fischer auf ihre fette Leber abgesehen. Das Öl aus diesem Organ wurde zur Herstellung von Lebertran benötigt. Und als Basis für Spezialfarbe: etwa zum Streichen der «Hytten», der hölzernen Ferienhäuschen an der norwegischen Küste. Erst in den 1960er-Jahren, als synthetisch hergestellte Alternativen auf den Markt kamen, wurde die Jagd auf Eishaie eingestellt. Zumal deren Fleisch ein Nervengift enthält und zum Verzehr nicht geeignet ist. Nur während Hungersnöten assen die Norweger mitunter dennoch davon – und nahmen die Gefahr eines «Haifischrauschs» mit Halluzinationen und Gleichgewichtsstörungen in Kauf.
Bis heute stuft die Weltnaturschutzorganisation IUCN Eishaie als «potenziell gefährdet» ein. Vor allem, weil sie bei der Fischerei auf Kabeljau oder Seelachs oft als Beifang in Schleppnetzen landen. Anscheinend aber versuchen sich manche Eishaie inzwischen selbst zu helfen und fliehen aus stark befischten Gebieten: Jahrhundertelang hielt man die arktischen Gewässer für ihren einzigen Lebensraum. 2007 aber erregten Videoaufnahmen aus dem Golf von Mexiko Aufmerksamkeit: Ein Eishai am Fusse einer Bohrinsel – Tausende Seemeilen vom Arktischen Ozean entfernt. Auch vor der Ostküste der USA wurden erste Exemplare gesichtet, und in der Nähe der Kanarischen Inseln gingen Fischern zwei Eishaie ins Netz. Vielleicht also sind die Methusalems der Meere inzwischen sogar auf allen Breitengraden unterwegs.
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