Durch einen rostigen Grenzzaun fällt der Blick auf kahle Felshänge und einen schäumenden Gebirgsfluss. Kein Mensch überquert heimlich dieses Niemandsland zwischen Iran und Armenien. Ein anderer Grenzgänger jedoch lässt sich von wilden Wassern und aufgereihtem Stacheldraht nicht schrecken. Auf lautlosen Pranken erobert der Kaukasus-Leopard sein altes Revier langsam wieder zurück. Seine Spuren im Uferschlamm oder Neuschnee sind meist die einzigen Hinweise, die Soldaten und Grenzschützer je zu Gesicht bekommen. «Leoparden können zweieinhalb Meter ohne Weiteres überspringen», erzählt Vasil Ananyan. Der Projektleiter des WWF-Leoparden-Schutzprogramms in Armenien ist einer der seltensten Grosskatzen der Erde auf den Fährten. An diesem wolkenverhangenen Morgen ist der 46-jährige Biologe entlang des Grenzzauns unterwegs nach Nrnadzor, dem Dorf unweit des Shikahogh-Reservates.

«Der Iran ist die letzte Bastion der Leoparden», sagt Ananyan. Auf nicht viel mehr als 800 Tiere schätzt der WWF die dortige Population der Persischen Leoparden, einer äus­serst seltenen Unterart des in Südafrika bis Java und der russisch-nordkoreanischen Grenze beheimateten Leoparden. In Armenien schienen die Tiere, die einst über den Kaukasus bis nach Europa streiften, um die Jahrtausendwende ausgestorben. Als 2003 ein Leopard in eine Fotofalle tappte, war dies geradezu eine Sensation.

Es war Ananyans heutiger Begleiter, der Wildtierforscher Alexander Malkhasyan, der als Erster in Armenien einen Leoparden mit der Kamerafalle erwischte, gar nicht weit von Nrnadzor. «Ich konnte meinen Augen kaum glauben, als ich das Foto sah», sagt Malkhasyan. Der 49-jährige Naturbursche mit dem grauen Vollbart verbringt manchmal Wochen in den unzugänglichen Bergregionen Armeniens zwischen Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan, um den Kaukasus- Leoparden nachzuspüren.

Reisetipps
Mit Swiss und Austrian Airlines über Wien nach Jerewan.
Geoplan stellt individuelle Rundreisen zu den Nationalparks und

Sehenswürdigkeit in Armenien und im Kaukasus zusammen: www.geoplan-reisen.de

Informationen über das Schutzprogramm des WWF Armenien:
www.leopard.am

Zehn Tiere identifiziert
«Mit den Kamerafallen können wir jedes einzelne Tier identifizieren», sagt Malk­hasyan, «wir erkennen sie anhand ihrer Fleckenmusterung.» Mindestens zehn Tiere kann der WWF Armenien inzwischen mithilfe der Kameraaufnahmen unterscheiden. Streift eines davon vielleicht gerade durch die Berge hinter Nrnadzor? Der Pfad in die Schlucht ist von dichtem Gestrüpp gerahmt. Christusdorn- und Wacholderbüsche, wilde Feigen, Mandel- und Walnussbäume ragen zwischen von Flechten überzogenen Felsbrocken in die Höhe. Ein aufgeschrecktes Chukarhuhn flieht gackernd ins Unterholz. «Heute Nacht war hier bestimmt ein Bär unterwegs», erklärt Malkhasyan und deutet auf einen Kothaufen, «er hat wohl von den Maulbeeren und Granatäpfeln in den Obstgärten unten im Tal genascht.» Meister Petz ist aber längst über alle Berge.

Neben einem wuchtigen Felsklotz packt Malkhasyan seine Ausrüstung aus dem Rucksack. «An Stellen wie dieser lohnt sich das Aufstellen der Kameras, weil die Tiere sie nur schwierig umgehen können.» Der Wildbiologe entfernt das hohe Gras und befestigt ein handgrosses Kästchen an einem Stamm. Die Batterien reichen für etwa vier Monate. Tappt ein Tier in den Infrarotstrahl des Bewegungsmelders, löst das automatisch die Kamera aus. Meist erwischt der Forscher Mufflons, Bezoarziegen, Rehe, Füchse, Schakale, Dachse und Steinmarder. Aber immer wieder auch Syrische Braunbären, Wölfe und Luchse.

Erscheint ein Leopard auf dem Bildschirm, nachdem Malkhasyan seine Fotokarten in den Laptop schiebt, ist die Freude noch immer riesig. Wie im Februar 2018, als eine Kamerafalle völlig überraschend im Khosrov- Reservat nahe Jerewans einen Leoparden knipste. Neo, wie Naturschützer den Wanderer tauften, wurde wahrscheinlich als Erster seiner Art überhaupt seit Jahrzehnten im Zangezur-Gebirge an der Grenze zwischen Armenien und Nachitschewan geboren und  machte sich auf die Suche nach neuen Territorien auf uralten Wildpfaden über das armenische Hochland in Richtung des Grossen Kaukasus. «Niemand weiss, wie Neo nach Khosrov kam», sagt Malkhasyan, «es ist wirklich unglaublich, dass er diese Reise überhaupt geschafft hat.»

Geschützt und doch gefährdet
Auch wenn Leoparden in Armenien seit 1972 unter Schutz stehen, sind sie weiterhin zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Immer noch machen Wilderer Jagd auf gefährdete Arten. Das Fell eines erlegten Leoparden dürfte auf dem Schwarzmarkt einige Tausend Franken einbringen. Die Zerstörung ihrer Lebensräume und die Verfolgung durch Viehzüchter setzt den Leoparden ebenfalls zu. Zu Sowjetzeiten war Armenien wichtiger Standort der Schwerindustrie. Die katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt sind bis heute sichtbar. Wälder wurden für den Bergbau abgeholzt, Abwässer der Fabriken in den nächsten Fluss geleitet.

Zusätzlich fordern Landminen und Stacheldraht entlang umstrittener Grenzen auch von der Tierwelt ihren Tribut. In der seit Langem umkämpften Vielvölkerregion scheint ein friedliches Miteinander weiter schier unmöglich. «Wenn der Konflikt nicht beendet werden kann, sieht es auch für die Leoparden schwierig aus», sagt Malkhasyan. 

Im Gegensatz zu Politikern halten Umweltschützer seit Langem einen Dialog aufrecht. Kürzlich trafen sich Artenschützer, Wissenschaftler und Regierungsvertreter aus Russland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und der Türkei, um einen gemeinsamen Naturschutzplan für den Kaukasus zu entwickeln. «Naturschutz kann dazu beitragen, Konflikte zu lösen», sagt Aurel Heidelberg vom WWF Kaukasus. «Wenn es um die Leoparden geht, sind sich alle einig, zusammenzuarbeiten.»

Wildtier-Korridor bis Georgien?
Wer den alten Wanderpfaden der Leoparden von der armenisch-iranischen Grenze nach Norden folgt, durchquert eine atemberaubend schöne Bergwelt. An einige der Eichen- und Wacholderwälder im Arevik-Nationalpark wurde nie eine Axt angelegt. Über die windgepeitschten Hochebenen und Pässe Südarmeniens blickt man auf schneebedeckte Gebirge und bei klarem Wetter bis zum Berg Ararat in der Türkei. Überall stösst man auf vom Gestrüpp überwucherte Ruinen. Auf den Dächern des wiederaufgebauten Klosters Norawank in der Amaghu-Schlucht kann man kletternde Bezoarziegen beobachten.

In manchen Gebieten hat sich die Zahl der Wildziegen verdoppelt, seit in den letzten beiden Jahrzehnten ihre Lebensräume unter Schutz gestellt wurden. Als eines der wichtigsten Beutetiere der Leoparden könnten die wachsenden Populationen eine Grundlage schaffen, dass in Zukunft nach Neo weitere Artgenossen ihren Weg nach Norden finden. Naturschützer träumen davon, dass die Grosskatzen über einen Wildtier-Korridor dereinst wieder bis nach Georgien streifen.

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