Es ist ein Glück, dass ich mit so einer attraktiven Tiergruppe arbeiten kann», sagt Thomas Hertach. Seine Forschungsobjekte sind Singzikaden, vor allem die Untergruppe der Bergzikaden. Insekten, die für Menschen hörbare Laute produzieren. Vor einem Jahr hat der 44-Jährige in der Schweiz gar eine weltweit neue Art beschrieben, Cicadetta sibillae. Ein Erlebnis, von dem Hertach schon als 15-Jähriger geträumt hatte: «Du siehst und hörst eine Tierart, die schon eine Million Jahre alt ist, die aber keiner vor dir bemerkt hat, das ist der Wahnsinn», sagt Hertach. «Du spazierst durch den Wald und denkst: Das ist deine Zikade, die da singt.»

Hier singt Cicadetta sibillae in der Originaltönhöhe – die Aufnahme ist auch ein Hörtest (stellen Sie erst alle anderen Tonaufnahmen auf Pause und hören Sie sich dann jedes einzeln an):

[EXT 1]

Und hier wurde die Frequenz verlangsamt, damit sie für jedermann hörbar ist:

[EXT 2]

Um seinem Gast die Welt der Singzikaden näherzubringen, holt Hertach aus seinem Arbeitszimmer in Hedingen ZH Schaukästen aus Holz und Glas hervor, in denen er verschiedene in- und ausländische Zikadenarten auf Nadeln gespiesst und beschriftet hat. Während in Australien offenbar gigantische Brummer zu Hause sind, sehen die etwa zwei Zentimeter grossen Schweizer Bergzikadenarten mit ihren Kugelaugen, dem dunklen Körper und den glasigen Flügeln noch immer recht imposant – aber vor allem allesamt ziemlich gleich aus. Kein Wunder, denkt sich der Laie, ging man so viele Jahre davon aus, dass es nur eine Bergzikadenart gibt. 

Ein gutes Gehör ist wichtig
Einige Arten entwickelten sehr komplizierte Gesangsmuster, über die man nur staunen könne. Vorsichtig holt Hertach ein Tier aus der Vitrine und hält es gegen die Lampe: «Der hintere Körperteil ist grösstenteils hohl, ein idealer Resonanzkörper», erklärt er: «Die Organe sind auf das Minimum reduziert irgendwo an die Wand gedrückt. Wichtig ist nur, laut zu singen.» Während die Gesänge exotischer Arten die Lautstärke einer Motorsäge erreichen können, braucht man für Cicadetta sibillae (hohe Ziehlaute und schnelle rhythmische Phasen wechseln sich ab) ein besonders gutes Gehör – über das Hertach glücklicherweise noch immer verfügt. 

Hier hören Sie Cicadetta brevipennis, eine mit C. sibillae nah verwandte Art, die aber ganz anders singt:

[EXT 3]

Das hier ist Cicada orni, die berühmteste europäische Singzikade. Wer schon mal am Mittelmeer in den Ferien wer, hat sie bestimmt schon gehört:

[EXT 4]

Für einen Auftrag hatte sich der teilweise selbstständig erwerbende Umweltnaturwissenschaftler 2003 beim Schweizer Zentrum für die Kartografie der Fauna (CSCF) erkundigt, wie viele Singzikadenarten es in der Nordschweiz gebe und die Antwort «eine Art» bekommen. Einen Tag später war Hertach an einer Weiterbildung im Fricktal unterwegs und hörte einen Gesang, den er nicht einordnen konnte. «Es war kein Amphibium, keine Heuschrecke und kein Vogel – es musste eine Singzikade sein.» Da sei ihm bewusst geworden, dass die Rückmeldung des CSCF nicht stimmen konnte. Hertach hatte die vermeintlich einzige Singzikadenart nämlich bereits im Goldauer Bergsturzgebiet singen gehört. Was er nun im Aargauer Fricktal hörte (eine Cicadetta cantilatrix), war nicht dasselbe. «Der Gedanke, dass da eine Art ist, von der das CSCF nichts weiss, hat mich fasziniert und nicht mehr losgelassen. Ich war so neugierig, dass ich dem nachgehen wollte. Es war wie eine Bestimmung. Dieser Tag veränderte mein Leben.» Bei seiner Recherche stiess Hertach auf zwei slowenische Wissenschaftler, die daran arbeiteten, aufzuzeigen, dass die Artenvielfalt der Bergzikaden grösser ist, als erwartet: «Von einem Tag auf den anderen war ich an der Forschungsfront mit dabei.»

Gross und trotzdem schwer zu finden
Seine eigene Bergzikadenart entdeckte Hertach 2004 im Tessin. Während sich die Gesänge mancher Bergzikadenarten so stark unterscheiden wie «Kuckuck und Amsel», war die Cicadetta sibillae eine Herausforderung. Ihr Gesang ist dem der Cicadetta cerdaniensis aus den Pyrenäen nämlich zum Verwechseln ähnlich. «Weil die Unterschiede klein sind, mussten wir sehr umfangreiches Datenmaterial im Feld zusammentragen und analysieren», erzählt Hertach: «Es war eine Knochenarbeit.» Genetik, feine Unterschiede in Gesang und Körperfärbung sowie ein umfangreiches Wissen über das Verbreitungsgebiet waren nötig, um die Experten davon zu überzeugen, dass Cicadetta sibillae eine neue Art ist. 

Er habe lange überlegt, welchen Namen er «seiner» Zikade geben wolle, erzählt Hertach, wobei die Gattung «Cicadetta» fix ist, der Name der neuen Art aber vom Entdecker gewählt werden darf. Drei Gründe hätten schliesslich zum Namen Cicadetta sibillae geführt. Erstens kommt die Bergzikadenart im italienischen Nationalpark «Monti Sibillini» besonders häufig vor, zweitens bedeutet Sibylle «weise Frau» und «Wahrsagerin», was zum «schwierigen Fall» passt, und drittens ist der Name ein «Vermächtnis» an seine Frau, die Sibille heisst und in den letzten Jahren immer wieder einmal auf ihren Mann und Vater zweier kleiner Kinder verzichtet hat. 

Hertach sucht im Computer nach Dateien mit verschiedenen Zikadengesängen, hält sich den Kopfhörer ans Ohr, erklärt die Hintergründe und übergibt dann seinem Gast. Dabei wird spürbar, wie aufregend es sein muss, auf der Suche nach neuen Tönen durchs hohe Gras zu streifen und zu hören, dass auf ein bekanntes «Sssitt ssitt ssitt» plötzlich ein überraschendes Ende folgt und die Entdeckung einer neuen Art in greifbarer Nähe liegt.

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Ein Männchen der Art Cicadetta sibillae, die Hertach entdeckt hat.
  Bild: Andreas Krebs

An der Wand hängt eine Italien-Karte mit vielen bunten Klebepunkten darauf. «Das sind alle meine Fundstellen von Bergzikaden», erklärt Hertach. Für seine Doktorarbeit hat er – ausgerüstet mit Ultraschallmikrofon, Ultraschalldetektor, Aufnahmegerät, Fotoapparat, GPS und Temperaturmessgerät – Italiens Zikadenbestände beinahe lückenlos dokumentiert. Insgesamt 27 Wochen hat Hertach für diese Feldarbeit investiert und innerhalb von fünf Jahren jeweils im Juni und Juli mit einem Scooter mehr als 20 000 Kilometer zurückgelegt: «Es war eine Superzeit.» 

Gleichzeitig sei er immer wieder an seine Grenzen gestossen. «Du weisst, dass du bis in drei Tagen an einem bestimmten Ort sein solltest, aber dir fehlt von der Region noch ein Tier.» Er habe mehrmals gedacht, er schaffe es nicht, sagt Hertach. Trotz ihrer Grösse seien Zikaden unglaublich schwer zu finden, sagt Hertach. Ausserdem liessen sich die Tiere kaum einfangen: «Sie können dem menschlichen Auge folgen und merken genau, wenn man sie entdeckt hat. Dann sind sie weg.»

Reisen über die Jahre verteilt
Seine Frau sei wie er sehr naturverbunden, erzählt Hertach. Seine schier grenzenlose Begeisterung für Singzikaden würde ihr zwischendurch aber auch einmal zu viel. Aus Rücksicht auf seine Familie sei er in diesem und im letzten Jahr nur innerhalb der Schweiz unterwegs. Für 2017 sei eine zweiwöchige Reise «von mittlerer Weite» geplant. 

Seine Doktorarbeit über die Bergzikaden Italiens soll noch in diesem Jahr fertig werden. Gleichzeitig arbeitet Hertach an einem Buch über die Zikaden der Schweiz und an einer Roten Liste, die künftig als politisches Instrument dienen soll. Als langfristiges Projekt ist ein Zikaden-Buch über Italien geplant: «Die Datenlage ist gut, aber es gibt noch ein paar Lücken.» Acht bis zehn Wochen Reisen seien dazu wohl nötig, rechnet der Familienvater aus: «Über die Jahre verteilt, sollte es gehen.»

Als Jugendlicher habe er sich mit seinem Interesse an der Natur etwas einsam gefühlt, erinnert sich Hertach. Entsprechend stolz und glücklich sei er gewesen, als seine Maturarbeit über Orchideen im Goldauer Bergsturzgebiet international ausgezeichnet wurde: «Das war für mich eine wichtige Phase. Meine Interessen wurden erstmals gewürdigt.» Damals habe sich gezeigt, was bis heute gilt: «Wenn mich mal etwas packt, dann ziehe ich es durch.»