Stella und Aladin begrüssen die Besucher ihres Winterquartiers im norditalienischen Lanzo d’Intelvi mit gespitzten Ohren. Die beiden Jungtiere gehören zu den gut zwei Dutzend wilden Pferden vom Monte Bisbino. Da ist kein wildes Davonstieben, wie man das aus Westernfilmen kennt. Wenn Luigia Carloni, die Präsidentin des Vereins «Cavalli del Bisbino», kommt, verhalten sich die Pferde wie Kinder, wenn eine geliebte Tante zu Besuch ist und beschnuppern ihre Tasche auf der Suche nach Mitbringseln. 

Die Herde besteht überwiegend aus Haflingern. Robusten, trittsicheren Gebirgspferden mittlerer Grösse, mit dichtem, fuchsfarbenen Fell, blonder Mähne und Schweif. Hier im Winterquartier traben und galoppieren die Pferde auf einem 30 Hektar grossen Gelände über Berghänge, Täler und durch den Birkenwald, und weiden friedlich an den überdachten Futterraufen, einige haben sich zum Ausruhen hingelegt. Doch was so paradiesisch wirkt, ist das Ergebnis grosser Anstrengungen von Tierschützern aus Nord­italien und dem Tessin. Von Persönlichkeiten wie Luigia Carloni. Sie hat zusammen mit vielen anderen unzählige Stunden hier in den Bergen verbracht und Heu und Wasser hochgeschleppt, um die Wildpferde in den Wintern 2008 und 2009 vor dem Hungertod zu bewahren.

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 Im Winter werden die Pferde gepflegt und gefüttert.

Plötzlich auf sich alleine gestellt
Carloni erzählt vom ursprünglichen Besitzer der Pferde, dem Bauern Roberto della Torre. «Er war ein Mann mit rebellisch anarchistischen Zügen, er folgte nur seinen eigenen Gesetzen.» Della Torre hatte sich, obwohl begütert, nach dem Tod seiner Frau mit den Pferden in seine Alphütte am Monte Bisbino im italienisch-schweizerischen Grenzgebiet zurückgezogen. Dort lebte er, bis sein Körper das trauernde Herz und die vielen Brissago-Zigarillos nicht mehr verkraftete. Im Januar 2003 starb er. 

Seine Tiere hatten immer sehr frei gelebt. Im Winter gab er ihnen Heu, und wenn sie einmal zu weit hinunterstiegen und sich in die Dörfer verliefen, ging er ihnen einfach nach und holte sie zurück. Der Priester im italienischen Dorf Rovenna ermahnte den Bauern zuweilen: «Roberto, deine Pferde kommen immer zur Kirche, doch dich sehe ich nie!» Nach della Torres Tod liess sein Knecht die Tiere frei und ging weg, um sich eine neue Arbeit zu suchen. Niemand kümmerte sich mehr um die Pferde.

Als wären ihre Urinstinkte nie gezähmt worden, organisierten sich die Pferde in verschiedenen Revieren auf beiden Seiten der Grenze: Vorne suchten die Leitstuten nach Futterplätzen, hinten verteidigten die Leithengste die Herde gegen potenzielle Angreifer. Die Bauern jedoch, die im Gebiet des Monte Bisbino und des benachbarten Monte Generoso ihre Kühe und Schafe weiden liessen, betrachteten die Pferde zunehmend als Konkurrenz. Bei guten Bedingungen kann eine Herde von 20 Haflingern bis zu 1600 Kilo Gras an einem einzigen Tag vertilgen. Deshalb versuchten die Landwirte, sie mit Lärm, ­Mistgabeln und Schaufeln zu vertreiben.

Ein toter Hengst und eine Konferenz
Irgendwann hörten Tierschützer von den wilden Pferden. Luigia Carloni sagt: «Es ging eine ungeheure Faszination von der Freiheit dieser Tiere aus. Sie verkörperten eine menschliche Sehnsucht – und in mir und vielen anderen Menschen regte sich ein Widerstand gegen jeden Übergriff, der dieser Sehnsucht zuwiderlief.» Langsam schlossen sich Tierschützergruppen aus dem Tessin und aus Norditalien zusammen. Das Ziel: die Rettung und Erhaltung der verwilderten Pferde. Mittlerweile hatten sich zwei Herden gebildet, die eine unter der Leitstute La Bionda, die andere unter dem Muli La Mula.

Im Winter 2009 geschah etwas, was für Carloni bis heute das schrecklichste Erlebnis bleibt: Tierschützer entdeckten gut vier Kilometer entfernt von seinem eigentlichen Weidegebiet den Kadaver des Leithengstes der Herde von La Bionda. Er musste von der Herde getrennt und in einen Abgrund getrieben worden sein, freiwillig hätte er sich nie von seiner Herde entfernt. Mit ihm verschwanden Agnese und Virgola, zwei Stuten, die viele Wochen später verstört aufgegriffen und wieder in die Herde integriert wurden. Bis heute gehen sie einmal im Jahr zu dem Ort, an dem der Hengst den Tod fand. 

Gleichzeitig trieb der Hunger die Tiere  wie schon im Winter 2008 bis nach unten in die Dörfer. Sie frassen Gärten und Friedhöfe kahl und schafften sich zunehmend Feinde. Immer wieder gab es Initiativen der Behörden, die die Tiere fangen und schlachten lassen wollten. Die Tierschützer merkten, dass sie sich enger organisieren mussten und gründeten Anfang 2010 den Verein «Associazione Cavalli del Bisbino».

Dann lud der Präfekt von Como alle beteiligten Tierschutzorganisationen und alle Kontrahenten einschliesslich der Erbinnen von Roberto della Torre an einen Tisch und diskutierte mit ihnen so lange, bis eine Lösung gefunden war. So wurden die Pferde Eigentum des Vereins «Cavalli del Bisbino». Die Erbinnen waren nach all den Schäden, die die Tiere verursacht hatten, mittlerweile froh, sie loszuwerden und bezahlten sogar für deren Abtretung. Der Präfekt regelte die Dinge im Detail: Im Winter mussten die Pferde versorgt und tierärztlich kontrolliert werden, im Sommer durften sie in den schweizerisch-italienischen Bergen ihre Freiheit geniessen. Ein Privatmann stellte ein provisorisches erstes Winterquartier bei Rovenna zur Verfügung, um die schlimmste Not zu lindern. Seit 2011 leben die Tiere im festen Winterquartier in Lanzo d’Intelvi. Von Mai bis Oktober sieht man sie hingegen völlig frei in den Bergen des Generosomassivs umherziehen.

Die Versorgung erfordert viel Feingefühl
Heute sind die Bisbini eine Touristenattraktion. Die «Associazione» zählt mittlerweile rund 500 Mitglieder. Die Betreuung und tierärztliche Versorgung der Pferde kostet jährlich etwa 60 000 Franken, die allein aus Spenden-Geldern bestritten werden müssen. Der Verein füttert, tränkt und entwurmt die Tiere. Hufe müssen kontrolliert und Impfungen gemacht werden, alles Präventionsmassnahmen, die an den unabhängigen verwilderten Haflingern viele Kenntnisse und Feingefühl erfordern.

Jetzt kommt «La Bionda» auf die Besucher zu. Vor der unangefochtenen langjährigen Chefin der Herde weichen die übrigen Pferde respektvoll zurück. Luigia Carloni bringt der blonden Stute immer ihre Lieblingsleckerei – Birnen – mit. Während sie das Tier füttert, sagt sie: «Für mich bleibt La Bionda die eigentliche Heldin. Sie hat den Grossteil der Pferde gerettet, obwohl sie nach dem Tod des Hengstes auch dessen Aufgaben übernehmen musste. Wäre sie nicht so stark und intelligent, hätte sie das nicht geschafft.»

Fortbildung für Tierschützer

Der Verein der Tierschützer, welche die Bisbini vor dem Hungertod retteten und sie nun weiterbetreuen, besteht nicht nur aus Pferdeexperten. Viele der Mitglieder hatten zu Beginn ihres Engagements keine Ahnung von Pferden und/oder fühlen sich bis heute unsicher. Deshalb hat der Verein für die Ausbildung der Mitglieder den Verhaltensforscher Francesco de Giorgio hinzugezogen. Er geht in seiner Methodik vom Verhalten der Pferde untereinander aus; er beobachtet, wie sie Beziehungen knüpfen, wie sie einander beobachten und voneinander lernen. Der Forscher motiviert seine Schüler «pferdisch» zu lernen – das heisst, aufgrund genauer Beobachtung ihres Verhaltens sich den Pferden zu nähern und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Nach dem letzten Fortbildungswochenende im Februar 2014 sagte Luigia Carloni überglücklich: «Zum ersten Mal habe ich es geschafft, La Bionda zu streicheln.»